Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Bedingungen, die Toleranz der gleichzeitigen Wahrnehmung guter und böser Erfahrungen. Diese Entwicklung zur Toleranz von Ambivalenz, von positiven und gleichzeitig auch von negativen Beziehungen zu denselben äußeren Objekten, führt schrittweise zu einem integrierten Gewahrsein des Selbst und wichtiger Anderer – anders formuliert: zu einer normalen Ich-Identität. Diese entspricht einem integrierten Selbstgewahrsein und der Fähigkeit, sich ein integriertes Bild von wichtigen anderen Personen zu machen. Diese zweite Entwicklungsebene entspricht der „depressiven Position“ der kleinianischen Theorie. Sie signalisiert das Auftauchen eines normalen psychischen Funktionierens oder einer Pathologie auf neurotischer Organisationsebene. Im Gegensatz dazu gibt das Auftauchen einer Charakterpathologie auf einem Borderline- Niveau der Persönlichkeitsorganisation, die Kleins „paranoid-schizoider Position“ entspräche, zu erkennen, dass die Integration einer normalen Identität gescheitert ist. Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation, eine schwere Persönlichkeitsstörung, ist tatsächlich durch die fehlende Identitätsintegration oder das Syndrom der Identitätsdiffusion, den dauerhaften Einsatz primitiver, auf die Spaltung konzentrierter Abwehrmaßnahmen und Einschränkungen der Realitätsprüfung – Defizite in den subtilen Aspekten des interpersonalen Verhaltens – charakterisiert. Psychoanalytische Objektbeziehungstheorien postulieren, dass eine Veränderung von einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation zu einer neurotischen und normalen Persönlichkeitsorganisation auch einer Veränderung von der Vorherrschaft primitiver Abwehroperationen zu weiterentwickelten Abwehroperationen entspricht, insbesondere zum vermehrten Einsatz der Verdrängung und damit zusammenhängender Mechanismen. Dies ist mit einer höheren Ebene der Projektion, Verneinung, Intellektualisierung und der Reaktionsbildungen verbunden. Diese fortgeschrittene Entwicklungsebene spiegelt sich in einer klaren Umgrenzung des verdrängten dynamischen Unbewussten – des „Es“ – wieder, das sich aus inakzeptablen internalisierten dyadischen Beziehungen aufbaut, die unerträgliche primitive Aggression und Aspekte der infantilen Sexualität repräsentieren. Das Ich umfasst nun neben dem integrierten, bewussten Selbstkonzept und den Repräsentationen wichtiger Anderer die Entwicklung sublimatorischer Funktionen, die sich in einer adaptiven Äußerung affektiver, emotionaler Bedürfnisse – die mit Sexualität , Abhängigkeit, Autonomie und aggressiver Selbstbehauptung zusammenhängen – zu erkennen geben. Internalisierte Objektbeziehungen, die auch ethische Gebote und Verbote repräsentieren, die in den frühen Interaktionen des Säuglings und Kindes mit seiner psychosozialen Umwelt – vor allem den Eltern – vermittelt wurden, werden in das „Über-Ich“ integriert. Diese Struktur ist aus verschiedenen Schichten internalisierter Verbote und idealisierter Gebote aufgebaut, die in ein personifiziertes, in höherem Maß abstraktes und individualisiertes persönliches Moralsystem umgewandelt werden (Kernberg 2012a, 2012b, 2004). In seinen aktuellen Bemühungen um eine Synthese geht es Kernberg (2015) auch darum, die neurobiologischen Grundlagen solcher entwicklungspsychologischen

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