Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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an einem Triebkonzept festhalten müsse, um über Funktion sprechen zu können. Mitchell (1997, 2000) verfolgte eine ähnliche Richtung wie Fairbairn mit seinem Modell des relationalen Konflikts und teilte schließlich Loewalds Interesse an Bindung und Entwicklung. Er gelangte zu dem Schluss, dass man nicht in interaktive Matrices hineingezogen wird, sondern von Beginn an stets in sie eingebettet ist. Vielleicht kann man sagen, dass Vertreter der relationalen Theorie die Triebtheorie [drive theory] nicht verwerfen, aber „drive“ – im Sinne Ghents (2002) mit einem kleinen d schreiben. Ghents Motivationskonzept rekurriert in hohem Maß auf Edelman (1987), für den menschliches Erleben mit einfachen, ungebeugten, primitiven Verhaltensweisen (z.B. der Hinwendung zu Licht und Wärme) beginnt, denen nach und nach Werte zuwachsen. In einer Entwicklungskaskade, die sehr rasch an Komplexität gewinnt, tauchen kleine, subtile (nicht bewusst intentionale) Erfahrungen als elaborierte Motivationssysteme auf. Sexualität, Aggression und Sicherheit sind keine vorprogrammierten Entwicklungsantriebe, sondern Entwicklungsergebnisse. Laut Edelman ist der Konflikt emergent und nicht auf einer unbewussten Ebene vorprogrammiert. Ghent und Harris betrachten den Konflikt durch die Linsen der Theorie nicht-linearer dynamischer Systeme oder der Chaostheorie, das heißt, sie verstehen ihn als einen sehr provokativen Initiator von Veränderung. Der Chaostheorie ist eine Theorie der Transformation inhärent. Aus Konflikt resultiert Ungleichgewicht. Konflikt ist eine Quelle der Veränderung, der Entwicklung und des Verstehens. Konflikt im Dienst der Entwicklung oder Transformation zeigt sich in unterschiedlichen Formen. Selbst auf der unbewussten Ebene kann der Konflikt zwischen Formen des Seins oder Formen der Bezogenheit zur Destabilisierung von Mustern und verhandelter Erfahrung führen. In der analytischen Arbeit gibt es jedoch einen Punkt, an dem konflikthafte Widersprüche zwischen mentalen Repräsentationen oder zwischen Objektbeziehungen unerschrocken bewusst gehalten werden – ein Punkt, an dem der Konflikt am Rand des Chaos schwebt. Am deutlichsten wird dies vielleicht in der Arbeit mit Patienten, die ein Objekt verloren haben und trauern. III. G. Französische lacanianische Perspektive Um die Rolle des Konflikts in Lacans Werk zu untersuchen, muss man sich seinem Konzept der Spaltung des Subjekts und der Struktur dieser Spaltung zuwenden, denn der Begriff „Konflikt“ an sich hat in Lacans Schriften und seiner Lehre keinen spezifischen Stellenwert. Wir hoffen, zeigen zu können, welche Abkömmlinge der klassischen Theorie des intrapsychischen Konflikts sein Werk enthält und in welchen Punkten es von ihr abweicht. Ein Grundkonzept der Lacan’schen Theorie des gespaltenen Subjekts ist der Mangel. Die französische Vokabel „manqué“ bedeutet sowohl „Verlust“ und „Mangel“ als auch „Lücke“, „Leere“. Lacan schrieb der Verlusterfahrung eine wesentliche Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Subjekts zu. Es wird überhaupt erst dadurch zum Subjekt, dass es dem Verlust begegnet und ihn repräsentiert. Dies ist ein

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