Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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wesentlicher Aspekt von Lacans Theorie des Subjekts. Er geht zurück auf Freuds Verständnis der Urverdrängung, das er 1920 in seiner Abhandlung Jenseits des Lustprinzips dargelegt hat. Dieser Prozess ist für die Herausbildung der Subjektivität an sich unverzichtbar. Das „primäre Befriedigungserlebnis“, von dem Freud spricht, ist ein mythischer Ursprungspunkt, weil es in der Psyche nicht repräsentiert und nicht erfahren wird, bevor es verloren geht. Der Versuch, diesen verlorenen Moment wiederzufinden, ist ein definierendes Prinzip der Subjektivität. Es wurzelt in der menschlichen Repräsentationsfähigkeit. In diesem Sinne liegt dieser exklusiv menschlichen Funktion das Prinzip des Mangels, d.h. das Prinzip der verlorenen Befriedigung, zugrunde. Lacans Denken enthält hier eine dialektische Beziehung, die auf Freud rekurriert: Die Urverdrängung der verlorenen Befriedigung kann erst erfolgen, wenn es eine Repräsentation, die verdrängt werden kann, gibt; repräsentiert werden kann aber nur, was bereits verloren wurde, das heißt, Verdrängung und Repräsentation müssen zusammen auftauchen: Das verlorene Objekt entsteht als ein bereits verlorenes . Dass Lacan den Verlust zur Bedingung der Subjektwerdung macht, unterläuft jede Vorstellung vom Säugling als rein natürliche, außerhalb der Kultur existierende Kreatur. Die Auffassung eines triebhaften Säuglings, der angeborene Verhaltensmuster – Bindungsmuster inbegriffen – zum Ausdruck bringt, ist weit entfernt von Lacans Theorie des Subjekts, das von Anbeginn seiner Existenz in Kultur eingeschrieben ist. Psychoanalytische Konflikttheorien fokussieren im Allgemeinen auf das Erleben von Lust vs. Unlust und auf die Bemühungen, die Konflikte zwischen den entsprechenden Affekten zu lösen. Dies impliziert zwangsläufig eine Theorie des „Wünschens“, der Motivation, Intention oder des Begehrens. Der Begriff „Begehren“ und die konzeptuelle Beziehung zwischen Begehren und Wunsch sind für das lacanianische Denken tatsächlich grundlegend und werfen Licht auf die implizite Funktion des intrapsychischen Konflikts innerhalb dieses Denkens. Das französische Wort désir ist eine adäquate Übersetzung des deutschen Wortes Wunsch , das Freud konsequent verwendet und das mit wish ins Englische übersetzt wurde. Allerdings konnotiert désir auch das deutsche Begierde (Begehren) , das in Hegels Texten durchgängig auftaucht. Es ist komplexer als Wunsch und verweist auf eine stärkere Intensität, also auf Leidenschaft, Gier oder Lust. Sowohl Freuds Wunsch als auch Hegels Begierde sind in Lacans désir enthalten. Eine angemessene englische Übersetzung wäre desire , nicht jedoch wish. Wenn wir wish und desire miteinander vergleichen, finden wir Unterschiede hinsichtlich der Funktion der Phantasie sowie des Unbewussten an sich. Brenners Überlegung, dass die ursprünglichen Wünsche [wishes] im Wesentlichen realistisch seien und nur durch ihren Konflikt mit noch stärkeren Wünschen – zum Beispiel dem Wunsch, Missbilligung zu vermeiden, etc. – zu verdrängten Phantasien würden, unterscheidet sich grundlegend von Lacans Auffassung der Entstehung des Begehrens als unbewusste Phantasie: Unbewusste Phantasie, die durch verschiedene diskrete Wünsche vermittelt werden kann.

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