Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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hervor. Dem mütterlichen Gefängnis zu entkommen ist gleichbedeutend mit einem Muttermord und beladen mit der Schuld der Geburt und der ihr entsprechenden Verfolgungsangst, die die Phantasie einer verschlingenden Mutter oder einer Mutter, die ihr Produkt oder ihr Kind wieder in ihrem Uterus verschließen möchte, betrifft. Für den Sohn wird der Vater zu einem Befreier aus der Symbiose, in der die Mutter ihn festzuhalten versucht; der Vater ist auch Führer und Vorbild und hilft ihm, der Symbiose fernzubleiben. Allerdings ist die Bindung zum Vater ambivalent, weil dieser nämlich in der Befreiung und Aneignung des Sohnes eine magische Möglichkeit sieht, seiner Todesangst entgegenzuwirken. Das Kind wiederum fühlt sich, konfrontiert mit der Urszene, ausgeschlossen und betreibt Bündnispolitik, um einen Keil zwischen die Eltern zu treiben und sich von einem oder beiden Elternteilen unabhängig zu machen. Jede der Rollen ist ambivalent, weil jede Aktion sich in der Innen-Außen-Dialektik abspielt und jede dieser Positionen mit einer charakteristischen Angst einhergeht: Das Innere bedeutet Sicherheit, Abhängigkeit und Gefängnis, das Außen bedeutet Freiheit, aber auch Hilflosigkeit und Verlassenwerden. Deshalb ist das Verhalten des Sohnes wie auch das der Eltern von Liebe und von Hass geprägt. Jeder der Protagonisten dieses Dramas versucht, in einem Inneren zu bleiben oder in ein Inneres zurückzukehren, ohne zum Gefangenen eines einkerkernden Inneren zu werden. Und jeder Schritt in dieser Dialektik wird vom Tod begleitet. IV. D. Norberto Carlos Marucco Wenn Norberto Carlos Marucco von „Dialektik“ statt von „Konflikt“ spricht, stützt er sich u.a. auf Freud, Klein, Bion, Winnicott, Lacan, Laplanche und Green. Unter Verweis auf seine klinische Erfahrung mit Borderline-Patienten formuliert Marucco eine Revision der psychoanalytischen Theorie der Sexualität und der Repräsentation, der er die Dialektik zwischen dem Sexualtrieb und dem Status des Objekts zugrunde legt. Der Autor postuliert eine Spaltung der psychischen Struktur zwischen der Verleugnung der Kastration und der Schaffung des virtuellen Objekts (nicht- pathologischer Fetisch); auf diesem beruhen die Objektwahl und die Liebesbedingungen. Das Ziel der analytischen Behandlung besteht laut Marucco darin, ein kreatives Gleichgewicht herzustellen zwischen der Anerkennung der Kastration und der trieberhaltenden Verleugnung, eine Dialektik, die auch die Grundlage einer postulierten Theorie der Sublimierung bildet. Das virtuelle Objekt muss in der analytischen Beziehung genährt und metaphorisch wiedererschaffen werden. Die Dialektik von Trieb und Objekt wird auch im Kontext von Sexualität und Übertragung diskutiert. Damit die Gefahr einer Idealisierung des Objekts vermieden wird, muss sich, so Marucco, die ödipale Sexualität in der erotischen Übertragung entfalten können, wobei der Analytiker gelegentlich die Stelle des prä-ödipalen Objekts einnimmt.

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