Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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V. SCHLUSS

Seine Kreativität und seine Einsichtsfähigkeit ermöglichte es Freud, an seinen eigenen Konflikttheorien Veränderungen vorzunehmen. Nach seinem Tod fächerte sich die Diversität weiter auf, und gleichzeitig kam es zu verschärften Kontroversen. Beispielhaft dafür sind die Diskussionen, die während des 2. Weltkriegs in England zwischen den Anhängern von Anna Freud und denen Melanie Kleins geführt wurden. Die komplexe post-freudianische Landschaft Europas spiegelte zu einem gewissen Grad die britische Situation mit der freudianischen, kleinianischen und unabhängigen Schule wider, die je eigene Auffassungen von der Zentralität des Konflikts entwickelten. Von wachsendem Einfluss waren dabei auch französische Perspektiven. Nachdem zahlreiche prominente europäische Analytiker, vor allem die Anhänger Sigmund und Anna Freuds, auf der Flucht vor den Nazis nach Nordamerika ausgewandert waren, entwickelte sich die nordamerikanische Psychoanalyse zunächst als eine Ich-Psychologie mit besonderer Betonung inter-systemischer und intra- systemischer struktureller Konflikte. In den 1970er Jahren wurde die sogenannte „Hartmann-Ära“ nach Hartmanns Tod Geschichte. An ihre Stelle trat die Ära des theoretischen und klinischen Pluralismus. Die wachsenden Einflüsse der britischen Objektbeziehungstheorien Kleins, Bions und Winnicotts, die französischen lacanianischen und nicht-lacanianischen Theorien, die Synthese Freuds mit all diesen Richtungen in der Arbeit lateinamerikanischer Autoren, die Entwicklung der Kohut’schen Selbstpsychologie, der relationalen und intersubjektiven Schulen sowie der Aufschwung der Säuglingsforschung und der modernen Neurowissenschaften fielen mit dem „erweiterten Anwendungsbereich“ der klinischen Psychoanalyse zusammen und bereicherten das psychoanalytische Konfliktverständnis auf mannigfaltige Weise. Zu verzeichnen ist eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom ödipalen Konflikt auf andere (prä-ödipale) Konflikte und damit einhergehend auf die ersten identifikatorischen Projektions- und Introjektionsprozesse in internalisierten dyadischen Objektbeziehungen, auf Trennungsangst, Objektverlust, Verlust der Liebe des Objekts, der Identität und des Realitätsbezugs. Damit einhergehend rückten die frühesten Stadien des Aufbaus der psychischen Struktur durch Repräsentation und Symbolisierung stärker in den Blick. Alte Kontroversen (und Konflikte) über die Bedeutsamkeit von Trauma vs. unbewusstem Konflikt und die Polarisierung von (unbewusster) Phantasie vs. Realität, biologischer und konstitutioneller Anlage vs. Umwelt sowie Konflikt vs. Defizit wurden aufs Neue untersucht und ganz allmählich in die moderne Version eines komplexen Paradigmas „komplementärer Serien“ integriert. Illustriert wird dieses neue Paradigma durch Engführungen innerhalb der modernen post-freudianischen, post-kleinianischen, post-bionianischen Modelle sowie durch Synthesemodelle, die prä-ödipale und ödipale Organisationsebenen, die mit Konflikt und neurobiologischer Entwicklung assoziiert sind, zu integrieren versuchen.

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