Zurück zum Inhaltsverzeichnis
vorausgehendes Produkt, sondern vielmehr eine dem „Nachher“ inhärente Formulierung. Er bricht die Modi, in denen Nachträglichkeit präsent und ausschlaggebend ist, herunter, indem er verschiedene Konzepte entwickelt: Geschichte [history], Erinnerungen, Phantasien, Urverdrängung und das Problem der Bedeutung. Szpilka (2009) betrachtet die Nachträglichkeit als ein Konzept, das eine Verbindung zwischen Ödipus und Narzissmus schafft, und bezeichnet Narzissmus ohne Ödipus sowie Ödipus ohne Narzissmus als stumm und leer. Luis Kancyper (1985) betont die zentrale Rolle des Freud’schen Konzepts der Nachträglichkeit in Verbindung mit den Phänomenen, die für die Adoleszenz charakteristisch sind, einem privilegierten Moment retroaktiver Umdeutung des A posteriori, denn die Adoleszenz konstituiert eine neue libidinöse Phase, in der erstmals eine genitale sexuelle Identität – ein psychisches und ein soziales Phänomen – erworben wird. Kancyper unterscheidet zwischen zwei Konzepten, die in der analytischen Theorie und Praxis oft verwechselt werden, nämlich zwischen dem Konzept der Entwicklung und dem Konzept des „Historischen“. Zelig Liberman (2015) beschreibt eine heterogene Zeitlichkeit, die in der Psyche in unterschiedlicher Ausdrucksform präsent ist. Das Konzept der Nachträglichkeit hat das Verständnis von psychischer Kausalität und Zeitlichkeit verändert. Es bezieht sich auf ein zweiphasiges Phänomen: Erinnerungsspuren werden auf der Grundlage späterer Ereignisse transformiert, die Ereignissen der Vergangenheit aufgrund der symbolischen Beziehung, die sie zu ihnen haben, Bedeutung und psychische Wirksamkeit verleihen. Liberman will die Spezifität des Nachträglichkeitsphänomens betonen, indem er seine traumatischen und transformativen Aspekte hervorhebt – eine Perspektive, die sich von dem in der Psychoanalyse zumeist vertretenen Blickwinkel unterscheidet.
III. F. Entwicklungen in Nordamerika
III. Fa. Arnold Modells Wiederbelebung des Konzepts: Rekontextualisierung von Erinnerung und Zeit und Ausweitung der psychischen Realität Über lange Zeit blieb das Konzept der Nachträglichkeit in weiten Teilen der englischsprachigen nordamerikanischen Psychoanalyse in der Latenz, bis Arnold Modell es in einer ganzen Reihe von Publikationen wiederaufleben ließ (Modell 1989, 1990, 1992, 1994, 1995, 1997, 2008). Sein Buch „Other Times, Other Realities” ist bis heute die umfassendste Darstellung des nordamerikanischen Verständnisses der Nachträglichkeit. Weil Modell Stracheys Übersetzung – deferred action – für irreführend hält, bevorzugt er den deutschen Begriff und bringt das Konzept in einen engen Zusammenhang mit der Erinnerung, indem er die Umschrift (oder zahllose Umschriften und Rekontextualisierungen) zu einem späteren Zeitpunkt in einem anderen Entwicklungs-, Motivations-, Gefühls- und Daseinskontext betont.
375
Made with FlippingBook - Online magazine maker