Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Modells Neubelebung des Konzepts der Nachträglichkeit war Folge einer Entdeckung, die sein Freund, der Nobelpreisträger Gerald Edelman, gemacht hatte. Edelman hatte einen ähnlichen Mechanismus im Gehirn entdeckt, nämlich eine ständige Rekontextualisierung oder Rekonfiguration neuraler Karten, und auf dieser Grundlage seine Theorie der Selektion neuraler Gruppen (TSNG) formuliert, die sehr stark an das Modell erinnert, das Freud im Dezember 1894 in „Manuskript G“ dargestellt und Fließ geschickt hatte (Brief 52). Die Analogien sind tatsächlich unverkennbar. Modells Verständnis des Konzepts und seiner festen Verbindung mit Erinnerung und Gedächtnis geht auf die Anfänge, auf die Formulierung der „Verführungstheorie“, zurück. „Freud und Breuer“, so schreibt er, „beobachteten, dass die affektive Erinnerung an das Trauma in der Psyche wie ein Fremdkörper überdauerte, der seine Wirkung noch lange nach dem traumatischen Ereignis entfaltete“ (Modell 1994, S. 92). So lesen wir in den „Studien über Hysterie“, „der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen“ (Freud 1895d, S. 86). Drei Jahre später entwickelte Freud eine differenziertere Theorie der Rekontextualisierung von Erinnerungen (Modell 1990). Modell, der eine präzisere englische Übersetzung für „Nachträglichkeit“ vorschlägt, nämlich „subsequentiality“, erkennt gleichwohl an, dass es sich um ein Wortungetüm handelt und benutzt deshalb weiterhin Freuds deutschen Ausdruck. Er weist darauf hin, dass Freud an seiner Überzeugung vom Primat der Erinnerung im Behandlungsprozess noch lange, nachdem er seine Verführungstheorie der Hysterie verworfen hatte, festhielt, und erinnert an die Abhandlung „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, in der Freud (1914g) die „Ausfüllung der Lücken der Erinnerung“ (S. 127) abermals als vornehmstes Ziel der Psychoanalyse bezeichnete. Indem Modell (1994) Entwicklung und Psychopathologie mit der Nachträglichkeit verbindet, kehrt er in seinem Artikel „Memory and psychoanalytic cure“ zu Freuds ursprünglicher Verwendung des Konzepts – die Psychopathologie resultiert aus einer Störung des Prozesses der Erinnerungsumschrift – zurück. Freuds Beschreibung dieser Störung als eine falsche Übersetzung der Erinnerung entsprach seinem ursprünglichen Verständnis des Verdrängungsmechanismus (und der Ätiologie der Hysterie). Modell äußert die „entwicklungspsychologische“ Vermutung, dass Freud die Phasen der psychischen Entwicklung später, nach der Formulierung des Ödipuskomplexes und der Phasen der psychosexuellen Entwicklung, als analog zu unterschiedlichen Sprachen betrachtete und dass Erfahrungen, die im Gedächtnis gespeichert wurden, durch spätere Entwicklungen wiederholte Umschriften, Neuschriften, Neuübersetzungen und Rekontextualisierungen erfahren. Modells Verständnis der Nachträglichkeit entsprechend, wird die Erinnerung an ein traumatisches Kindheitserlebnis im Alter von x modifiziert, wenn das Kind das Alter y erreicht; weitere Modifizierungen erfolgen dann im Alter z und so weiter. Von maßgeblicher Bedeutung war Freuds Einsicht, dass „die Vergangenheit die Gegenwart verändert und die Gegenwart auch die Vergangenheit modifizieren und unsere Erwartungen bezüglich der Zukunft verändern kann“ (Modell 1994, S. 92).

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