Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Modell (1994) stellte eine Verbindung her zwischen der Rekategorisierung affektiv besetzter Erinnerungen, die in der Übertragung aktiviert wurden, und der daraus resultierenden Erweiterung der Bedeutungen. In diesem Kontext kann die pathologische Entwicklung infolge einer traumatischen Erfahrung als Ausdruck einer mangelnden Fähigkeit, neue Bedeutungen zu erzeugen, verstanden werden. Die Bedeutungserweiterung wiederum beruht auf dem ungehinderten Zugang zu alten Erinnerungen, die durch aktuelle Wahrnehmungen rekategorisiert werden können. Die in der Nachträglichkeit implizierte Paradoxie bestätigt auch das Konzept multipler psychischer Prozesse und multipler subjektiver Realitäten, die nicht nur frühen und späteren Entwicklungen, reziproken Regressionen und Progressionen, inhärent sind, sondern auch der Dialektik des Illusorischen, Wirklichen und Realen im klinischen Setting und im Behandlungsprozess innewohnen und auf unterschiedliche Weise an der Entstehung von Übertragung und Gegenübertragung, von Inszenierungen, verbalen und nonverbalen Kommunikationen teilhaben. Inbegriffen in dieser Definition der Nachträglichkeit ist die Annahme multipler Übertragungsrealitäten und Realitäten des klinischen Settings: sie sind sowohl real als auch illusorisch, sowohl Wiederholung als auch Neubildung; die Vergangenheit ist in der Gegenwart aktiv, und die Gegenwart verändert, was Vergangenheit war. Das nicht assimilierte Trauma kann umgeschrieben und auf diese Weise durchgearbeitet werden. In seinem Beitrag „Psychoanalytic setting as container of multiple levels of reality“ zieht Modell (1989) den Schluss: „Es ist heilend, das Trauma aus der Vergangenheit im neuen Kontext der sicheren Objektbindung an den Analytiker zu erleben. Das Paradox aber besteht darin, dass der Analytiker verschiedene Realitätsebenen gleichzeitig repräsentiert: die Gefahren der Vergangenheit ebenso wie die Sicherheit der Gegenwart“ (S. 85). Das Konzept der Nachträglichkeit impliziert ein zyklisches Verständnis von Zeit und Erinnerung und die affektive Rekontextualisierung von Erinnerungen und Zeit. Die im Trauma erstarrte Zeit kann mit den erstarrten Funktionen der Bildung von Metaphern und Symbolen verbunden sein, die beide mit affektiver Bedeutung zusammenhängen (Modell 1995, 1997). Die affektiven Rekontextualisierungen von Erinnerungen können einen Zugang zu dem vorher nicht verfügbaren Prozess der Metaphernbildung eröffnen und kreativen Anpassungsmöglichkeiten den Weg bahnen (Modell 2008). III. Fb. Entwicklungstransformation des Traumas Harold Blum (1996) untersuchte das Entwicklungstrauma unter dem Blickwinkel des Verführungstraumas, der Komplementarität von Erinnerung und Phantasie, Repräsentation und pathogener Entwicklung, Modifizierung der Erinnerung durch Lebenserfahrungen und analytische Erfahrungen und schreibt: „[…] aufgrund ihrer Beziehung zu zeitlichen und kausalen Aspekten bezeichne ich die Nachträglichkeit […] als einen nicht anerkannten Vorläufer des modernen Konzepts der Entwicklungstransformation“ (S. 1155). Blum erweitert die Entwicklungsperspektive auf die gesamte Lebensspanne und den Traumaaspekt auf das gesamte Erfahrungskontinuum und hebt die wechselseitigen Beeinflussungen von

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