Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Wirkung entfaltet, analog zu derjenigen des Wiederholungszwangs, der die Unvertrautheit und den verwirrenden Charakter der ursprünglichen Erfahrung zu symbolisieren sucht – ob als reales Ereignis, das nicht verstanden wurde, oder als eine diffuse primärprozesshafte Szene –, damit sie nachträglich im Einklang mit dem Realitätsprinzip strukturiert, gedacht, verstanden und vielleicht auch bewältigt werden kann“ (Dahl 2010, S. 740). In einer umfassenden Übersicht der transkulturellen Literatur betonte Joann K. Turo (2013) zwei Zeitvektoren der Freud’schen Nachträglichkeit – den Aufschub und die retroaktive, nachträgliche, Umarbeitung. Ihrer Ansicht nach beruht die therapeutische Wirkung der Psychoanalyse im Unterschied zur Wirkung von Psychotherapien „in dem psychoanalytischen Prozess, nicht-assimilierte traumatische Erinnerungen in der Wiederholung in der Übertragung durch die Deutungarbeit zu assimilieren, so dass durch die retroaktive Umarbeitung eine neue Perspektive, neue Erfahrung und neue Bedeutung ermöglicht werden, was insbesondere in der Phase des Durcharbeitens des Prozesses deutlich wird“ (Turo 2013, S. 2). III. Fc. Intersubjektive und relationale Perspektiven: Nichtlinearität und das Unerwartete Intersubjektivistische und relationale Schulen betonen in ihrem Theoretisieren der Nachträglichkeit die Nichtlinearität, die Fluidität und den unerwarteten Charakter klinischer Dialoge und der Dialoge der Vergangenheit. Die Nachträglichkeit, von der es oft heißt, dass kein Freud’sches Konzept weniger linear sei, antizipiert in intersubjektiver Perspektive die moderne Betonung multipler Subjektivitäten und multipler Zeitlichkeiten als integrale Bestandteile des psychoanalytischen Prozesses. Adrienne Harris (2007) verweist auf den Beitrag, den die Nachträglichkeit zur Formung des klinischen Narrativs leistet, indem sie in der klinischen Arbeit potentiell unbewusste Dialoge der Vorgeschichte evoziert. Sie schreibt: „Die Vergangenheit wird nicht lediglich wiedergefunden, sondern zum ersten Mal überhaupt bearbeitet oder hergestellt“ (S. 660). Jay Greenberg (2015, persönl. Mitteilung an Eva Papiasvili) benutzt mangels einer angemessenen englischen Übersetzung den franzöischen Begriff Après-coup. Nach seiner Ansicht erinnert das Après-coup uns daran, dass nichts, was geschieht – sei es im Behandlungszimmer oder ganz allgemein im Leben -, eine ein für allemal feststehende Bedeutung hat und jederzeit restlos verstanden werden kann. Vielmehr entfaltet Bedeutung sich nach und nach und verändert sich, wenn sich der Kontext, in dem Ereignisse erlebt werden, verändert. Greenberg bringt das Après-coup mit Madeleine Barangers Überlegung in Verbindung, dass alles gleichzeitig etwas anderes ist, und fügt die zeitliche Dimension hinzu: alles ist, alles war und alles wird etwas anderes sein. Dies bei der Arbeit zu berücksichtigen übt einen tiefen Einfluss auf das Verständnis des klinischen Prozesses aus; es erinnert daran, die „erfolgreichen“ Interventionen nicht zu feiern und in den „Fehlern“ nicht zu versinken, denn alles wird sich auf eine Weise entfalten, die das, was geschehen ist, auf unerwartete Weise beleuchten wird.

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