Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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II. Fd. Nachträglichkeit als eine wesentliche Eigenschaft des allgemeinen unbewussten Funktionierens Diese Übersicht der Strömungen in der nordamerikanischen Theoretisierung der Nachträglichkeit lässt die Tendenz deutlich werden, das Phänomen als charakteristisches Merkmal des allgemeinen unbewussten Funktionierens zu betrachten. Andere Autoren haben die Aufmerksamkeit jedoch auf einzelne, spezifische Aspekte dieses von Natur aus komplexen Phänomens gelenkt. Eine Möglichkeit, die zahlreichen unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs zu verstehen, besteht darin, das „Emma-Modell“ einer initialen sexuellen Kindheitserfahrung, die erst nach der Pubertät eine traumatische Bedeutung erhält (siehe oben), als Subset einer umfassenderen psychischen Fähigkeit zu betrachten, Erinnerungen neu zu interpretieren – wobei nicht vergessen werden darf, dass es nicht um eine spezifische Erinnerung geht, die sich zu einem späteren Zeitpunkt verändert, sondern vielmehr um die Bedeutung, die in einer neuen „Blüte“ signifikant verändert wird. In der „Inkubationszeit“ zwischen den beiden „Ereignissen“ scheint eine unbewusste, passive Ausarbeitung stattzufinden, aus der ein neues Verständnis hervorgeht, das die weitere Entwicklung entweder blockiert oder fördert. Zwar griff Freud selbst auf die „Übersetzungsmetapher“ der abgeänderten Umschrift zurück, doch dieser sprachliche Bezug wird der radikal veränderten intersubjektiven Position nicht gerecht, die mit bestimmten „Neukategorisierungen“ der Erinnerung einhergeht (wie sie beispielsweise nach der Entdeckung eines Betrugs, eines Übergriffs oder eines Suizids erfolgen können). Vor dem Hintergrund, dass die ursprünglichen Instrumente der Neuschrift von den frühen Bezugspersonen – den „realen Anderen“ – vermittelt werden, beziehen nordamerikanische französischsprachige Analytiker auch die Rolle des Anderen in ihre Theorien des Après-coup mit ein. Infolgedessen kann die Qualität der von der frühen Umwelt bereitgestellten interpsychischen Interaktion ein wichtiger, verborgener Bestandteil der historischen Realität der ursprünglichen traumatischen Erfahrung sowie der Möglichkeit seiner Umschrift sein. III. Fe. Nachträglichkeit und moderne (vorwiegend nordamerikanische) interdisziplinäre Studien Wenn man die Unterschiede zwischen den Forschungsfeldern und ihren unterschiedlichen Methoden anerkennt, statt sie zu verwischen, können die interdisziplinären Verbindungen und Anwendungen sowie die wechselseitige Befruchtung zwischen der Psychoanalyse und anderen Forschungsfeldern vielversprechende Analogien und neue Hypothesen ermöglichen. Ebendieser Methode folgte Freuds eigene Theoriebildung. Um seine Theorien voranzubringen, rekurrierte er auch auf andere Felder – beispielsweise die Naturwissenschaften, die Anthropologie, die Sprachwissenschaft, Archäologie, Kunst, Literatur usw. – und berief sich auf Ähnlichkeiten und Entsprechungen, ohne trennende Unterschiede zu verkennen.

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