Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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III. Fea. Nachträglichkeit und Neurowissenschaften Das Konzept der Nachträglichkeit weist als Grundlage der psychoanalytischen Theorie des Erinnerns und der Zeitlichkeit in Bezug auf Libido- und Triebtheorie auf moderne neurobiologische Erkenntnisse voraus. Interdisziplinäre Überlegungen zu den dynamischen Verbindungen zwischen den heutigen Neurowissenschaften und verschiedenen Aspekten der Nachträglichkeit wurden insbesondere in den Vereinigten Staaten, in Kanada und in Italien formuliert. Nachträglichkeit, die abgeänderte Umschrift der Erinnerung, kann als Analogie zu einigen der charakteristischen Merkmale der heutigen neurobiologischen Theorie des Erinnerns als Rekategorisierung verstanden werden (Edelman 1987, 1989, 1992; Freeman 1995). Edelmans Globaler Theorie der Hirnfunktionen (GTBF) entsprechend, ist das, was abgespeichert wurde, eine seiner Aktivierung harrende Potentialität. Darüber hinaus hat Freud wiederholt betont, dass die Affektspuren der frühesten, nicht- repräsentierten und nicht-symbolisierten Szenen, die sich vor dem Alter von einem Jahr ereignet haben, dem Gedächtnissystem – als Affektbetrag – eingeschrieben werden. Er war überzeugt, dass der nicht abgeführte Affektbetrag als Repräsentanz des Triebes fixiert wird, so dass seine Erinnerungsspur im Gedächtnis bewahrt bleibt. Mark Solms (2006) feiert den neurowissenschaftlichen Beweis für diese These als einen „Triumph der Psychoanalyse“. Dominique Scarfone (2006, 2015) hat die unterschiedlichen Gedächtnisformen, die von der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie sowie von den kognitiven und den affektiven Neurowissenschaften beschrieben werden, in Bezug auf das psychoanalytische Konzept der Nachträglichkeit untersucht: a) Eine relativ stabile und organisierte Form des Gedächtnisses, die von Freud im „Entwurf“ von 1895 als ein stabil „fazilitiertes“ [gestütztes] neuronales Netzwerk, das sich als Vorläufer des Ichs oder des Selbst zu erkennen gibt: eine Konstellation von Eigenschaften, Gewohnheiten und Tendenzen, die im Laufe des persönlichen Wachstums und der Weiterentwicklung für ein Gefühl der Kontinuität sorgen. Ein Selbst oder ein Ich ist die objektive Erinnerung an die Spuren, die von den wichtigsten Erfahrungen und Begegnungen im Leben bleiben. Diese Form des Gedächtnisses wird mitunter als Charakter oder als Persönlichkeitsorganisation mit individuell charakteristischen Abwehrmechanismen, Objektbeziehungen usw. beschrieben. b) Eine relativ stabile, aber weniger gut organisierte Form eines nicht- deklarativen Gedächtnisses, das sich in den verschiedenen klinischen Modi des Wiederholungszwangs manifestiert. Diese variieren von hochgradig subtilen Übertragungsäußerungen bis zu den eher spektakulären Formen des Enactments und sind in beiden Fällen affektiv getönt. Die Wiederholung ist hier auf jeder Ebene aktiv; man führt sie gewöhnlich auf tief eingewurzelte Engramme zurück, die sich nicht ohne weiteres in symbolisches Denken transformieren lassen. Diese Art des Gedächtnisses manifestiert sich in Handlungsweisen, Aktionsweisen, die aber mithilfe der psychoanalytischen Untersuchungsmethode in eine besser „brauchbare“ Form des Gedächtnisses integriert werden können. Auch die Erforschung des Traumas (van der Kolk 1996) und des impliziten Wissens (Reis 2009; Boston Change Process Study

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