Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Group 2007) konzentriert sich auf Gedächtnis und Erinnerungen, die sich – ohne im eigentlichen Sinn repräsentiert zu werden – in erster Linie in verkörperlichter [embodied] Form oder als Enactments manifestieren. Die Aufgabe der analytischen Arbeit mit verkörperlichten oder agierten Erinnerungen besteht darin, eine abgeänderte Umschrift solcher Erfahrungen zu erstellen, damit sie repräsentierbar werden (Mancia 2006). [Siehe auch den Eintrag ENACTMENT.] c) Erinnerungen können als Halluzinationen auftreten und sich in Träumen, Tagträumen, Reverien und anderen Formen vorwiegend sensorischer oder pseudo- sensorischer Wahrnehmung manifestieren. Auch diese Erfahrungen müssen psychoanalytisch gründlich erforscht werden, damit sie für das Denken im eigentlichen Sinn zur Verfügung stehen können (Mancia 2006; Papiasvili 2016). d) Das Erinnern kann sich in Form von Erinnerungen, d.h. Narrativen, mit reichen Wort- und Affektkonnotationen manifestieren, die ein früheres Erlebnis zum Gegenstand haben. Zu unterscheiden ist hier zwischen spontanen „Deckerinnerungen“, die aus der Verschiebung des Affekts resultieren, und den nachträglichen „Konstruktionen“ oder „Rekonstruktionen“, deren Wahrheitsgehalt in hohem Maß überzeugend wirkt, auch wenn es eine wirklich unstrittige „letzte Fassung“ niemals geben kann. Das Konzept der Nachträglichkeit ist für sämtliche verschiedene Formen des Gedächtnisses und des Erinnerns relevant: Das Gedächtnis ist ein lebendiges System , das sich ständig durch einen dialektischen Prozess, in dem Altes bewahrt und gleichzeitig Neues integriert wird, rekonfiguriert. Unter einem neurobiologischen und psychoanalytischen Blickwinkel betrachtet, erzeugt die regelmäßige Rekonfiguration den lebendigen Charakter, die Lebendigkeit, des Gedächtnisses; gleichzeitig aber macht sie es zum Schauplatz eines innerpsychischen Kampfes. Dies geschieht, wenn die aktiven „Inschriften“ oder „Engramme“ des Gedächtnisses die stabile Erinnerungsstruktur des Ichs oder Selbst gravierend zu beeinträchtigen drohen oder wenn die Struktur in ihrer Entwicklung so schwer geschädigt oder beeinträchtigt wird, dass sie neue Erfahrungen nicht mehr ohne weiteres integrieren kann und deshalb dazu verurteilt ist, alte Muster zu wiederholen, statt neue Erfahrungen zu introjizieren oder zu integrieren. In diesem Sinn verstanden, kann jede Psychopathologie auf eine Schwierigkeit zurückgeführt werden, die erforderliche Rekonfiguration des Gedächtnisses vorzunehmen. In ihrer Praxis haben Psychoanalytiker es immer mit dem Gedächtnis zu tun, sei es mit Erinnerungen oder aber mit Wiederholungen , die nicht bewusst als lediglich eine andere Form des Erinnerns wahrgenommen werden (Freud 1914g). Eine detaillierte Untersuchung unter dem Blickwinkel der Zeit veranlasste Scarfone (2006, 2015) zu der Vermutung, dass das, was in der Psychoanalyse als die „Vergangenheit“ des Patienten erschlossen wird, in Wirklichkeit nie „Vergangenheit“ im eigentlichen Sinn ist. Die nicht-deklarativen Formen des Gedächtnisses drängen den Patienten aktiv zur Wiederholung, und der „Druck“, den sie ausüben, geschieht in der Wahrnehmung der ersten Person im „Jetzt“, auch wenn diese Erinnerungen unter dem Blickwinkel der dritten Person zur Vergangenheit gehören. Weil sie im „Jetzt“ als Druck erlebt werden,

382

Made with FlippingBook - Online magazine maker