Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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spricht Scarfone von der „Un-vergangenheit“. Was sich in der Übertragung wiederholt, ist eine Form des Erinnerns, die noch nicht in die Kategorie der Vergangenheit aufgenommen worden ist und sich noch nicht als Vergangenheit stabilisiert hat. Auf der Grundlage dieser klinischen Beobachtungen plädiert Scarfone (2015) für eine Ergänzung der kognitiven Gedächtnisformen: Während die Kognitionspsychologie zwischen dem deklarativen Gedächtnis und dem nicht-deklarativen Gedächtnis unterscheidet und dem deklarativen Gedächtnis semantische, episodische und autobiograpische Elemente, dem nicht-deklarativen hingegen prozedurale und affektive Komponenten zuweist, muss die Psychoanalyse all diese Geächtnisformen mit Blick auf die Frage betrachten, ob sie auf „vergangenes“ oder auf „unvergangenes“ Erleben verweisen. Das nicht-deklarative Gedächtnis ist als Aufbewahrungsort „unvergangener“ Erfahrungen zwar geeignet, doch kann jede dieser Gedächtnisformen von der „Unvergangenheit“ überwältigt werden (zum Beispiel beim vorübergehenden Vergessen eines Namens oder, am anderen Ende des Spektrums, wenn intrusive episodische Erinnerungen an traumatische Erlebnisse die Realitätswahrnehmung überwältigen). Der „situierte“ Charakter der psychoanalytischen Untersuchung bringt es mit sich, dass jede Erinnerungs- oder Gedächtnisform in der Übertragungsbeziehung aktiviert und in eine komplexere Dynamik der Nachträglichkeit einbezogen werden kann, als sie sich in standardisierten Laborexperimenten beobachten lässt. transgenerationale Transmission destruktiver Aggression In den Vereinigten Staaten prägte Maurice Apprey (1993, 2014) die Formulierungen “Träume von dringlichen, selbstgewollten/freiwilligen Aufträgen“ [„dreams of urgent, voluntary errands“], “Latenz der Vorvergangenheit” [„pluperfect latency“] und „Aufträge der Vorvergangenheit“ [“pluperfect errands”], um die rätselvolle und unheimliche Wiederkehr in seiner Arbeit über transgenerationale Transmissionen destruktiver Aggression bei traumatisierten Individuen und Gesellschaften, die katastrophischen traumatischen Geschehnissen ausgesetzt waren, zu beschreiben (Apprey, 2003). „Auftrag“ [‘errand’] steht hier für die Überlegung, dass es die Intentionalität eines Anderen ist, die als eigene Intentionalität erinnert oder angeeignet wurde. In Appreys psychologischer Verwendung des Wortes „errand“ impliziert ist eine Vorstellung, in der sich „error“ = Fehler/Irrtum – ein „wandering away“ = Fortwandern, Abschweifen –, ein „mistake“ – Versehen, Fehlentscheidung sowie ein – vom Subjekt für ein inneres Objekt zu erfüllendes – Mandat miteinander verbinden. Unter Berufung auf Claude Romanos (2009) Rückkehr zu sich selbst , Nicholas Abrahams (1988) Phantom , Haydée Faimbergs (2005) Teleskoping der Generationen und Vamik Volkans (2013) auserwählten Traumata und auserwählten Ruhmestaten – allesamt Konzepte mentaler Repräsentationen kollektiver Erinnerungen – konstruierte Apprey (2014) eine zehn Schritte umfassende mnestische Metasynthese der oben III. Feb. Nachträglichkeit und historisch-gesellschaftlicher Kontext:

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