Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Andere Richtungen der nordamerikanischen Theorie betrachten die Psychoanalyse an sich als die Erforschung der Nachträglichkeit früher Lebensereignisse, ermöglicht durch multiple, dem psychoanalytischen Setting inhärente Realitäten, die symbolische Brücken zwischen unassimilierten traumatischen Erlebnissen und ihrer Umdeutung und Transformation in repräsentierbare Erfahrungen (re-)konstruieren – ein Prozess, der die Erzeugung qualitativ neuer Subjektivitäten und die Ausweitung von Bedeutungen generationenübergreifend unterstützen kann. In der zeitgenössischen nordamerikanischen Psychoanalyse werden, insgesamt gesehen, die zwei Zeitvektoren der Nachträglichkeit – Aufschub und nachträgliche Umschrift/Umdeutung – als komplementär betrachtet; sie entsprechen der Dialektik des sowohl (multi-)deterministischen als auch hermeneutisch-rekonstruierenden und konstruierenden psychoanalytischen Prozesses. Unter den zeitgenössischen interdisziplinären Referenzdisziplinen betont die heutige Neurowissenschaft die verschiedenartigen Formen des Gedächtnisses als lebendiges System , das sich durch das Medium des psychoanalytischen Dialogs rekonfiguriert. In dieser rekonfigurierenden Operation bestätigen sowohl die Neurobiologie als auch die Psychoanalyse die aktive Dynamik und den lebendigen Charakter des Erinnerns . In diesem für die Nachträglichkeit relevanten Kontext erweist sich Psychopathologie als eine Störung der Rekonfiguration des Erinnerns; die Psychoanalyse unterstützt die Konstruktion und Integration neuer Erfahrungen und setzt den gebieterischen Drang, starre, verzerrte Inschriften zu wiederholen, die die Struktur des Gedächtnisses und die Integrität des Ichs sowie die dynamische Fluidität der psychischen Struktur insgesamt beeinträchtigen, außer Kraft. In der ganzen Welt haben viele Autoren die Bedeutsamkeit des Konzepts der Nachträglichkeit in Freuds Gesamtwerk aufgezeigt und hervorgehoben (Eickhoff 2006). B. Chervet wies darauf hin, dass Freud die Wörter „Nachträglichkeit“ und „nachträglich“ ab 1917 nicht mehr benutzte, sondern stattdessen den zweistufigen Prozess und dem Wert der psychischen Arbeit in regressive und progressive Richtung beschrieb. Auf beiden Seiten des Atlantiks hat Freuds Nachträglichkeit im Anschluss an eine Phase der „Konzeptlatenz“ und Lacans Wiederbelebung des Konzepts weitere Ausarbeitungen, Differenzierungen und Transformationen steigender Komplexität erfahren. Es ist zu einem der Grundkonzepte einer Theorie des Denkens geworden – einschließlich Zeitlichkeit, Kausalität, Gedächtnis, Erinnerung, Trauma, Repräsentationen, Affekte, Sexualität und erotogener Sinnlichkeit.

Siehe auch: ENACTMENT

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