Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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wurden, aber auch mit dem „Dritten Modell“ einiger französischer sowie französisch- kanadischer Psychoanalytiker. Diese (mittlere) Definition dient als „wichtiger integrativer Bezugsrahmen, der das psychosoziale Verständnis der subjektiven und erfahrungsbasierten Natur des menschlichen Lebens […] mit den intrapsychischen, von der allgemeinen Metapsychologie konzipierten Strukturen verbinden kann“ (Kernberg 1977, S. 58). Diese Eigenschaft des – in einer historischen Perspektive betrachteten - „integrativen Bezugsrahmens“ betonte auch S. Mitchell (1968), als er in seiner John Bowlby Memorial Lecture schrieb: „Bedeutende relationale Autoren haben unser klinisches Verständnis unterschiedlicher Facetten und Implikationen der menschlichen Bezogenheit und Bindung erweitert und vertieft. Fairbairn erforschte die Psychodynamik von Bindungen an physisch oder emotional abwesende Elternfiguren. Winnicott warf Licht auf die subtile Art und Weise, wie die sichere Bindung die Entwicklung eines persönlichen Selbstgefühls fördert und wie das Fehlen solcher Elternfunktionen eine solche Entwicklung adaptiv verhindert. Loewalds innovative Theoriebildung legt nahe, dass die vermeintliche Separation zwischen dem Subjekt, dass sich bindet, und dem Objekt der Bindung eine Organisationsebene des Primärvorgangs überlagert, in der das Selbst und die/der Andere mehr oder weniger undifferenziert voneinander existieren. Loewald (1988) vertritt die Ansicht, dass gesunde Objektbeziehungen weniger auf einer klaren Trennung des Selbst von Anderen beruhen als vielmehr auf einer Fähigkeit, in dialektischer Spannung verschiedene, einander wechselseitig bereichernde Formen der Bezogenheit aufrechtzuerhalten. Und schließlich haben Sullivan und die modernen Vertreter der Interpersonalen Psychoanalyse unser Verständnis der Art und Weise verbessert, wie die Schicksale der frühen Bindungserfahrungen in aktuellen Beziehungen – einschließlich der Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung mit dem Analytiker – zum Tragen kommen. An diesem Punkt der Entwicklung psychologischer Konzepte bieten die Bindungstheorie und die psychoanalytische (Objektbeziehungs-) Theorie eine spannende Möglichkeit der Annäherung und wechselseitigen Bereicherung“ (S. 193). Das postfreudianische Interesse an der Rolle, die das Objekt in der Entwicklung des psychischen Apparates spielt, ist ein Bereich, der ausgeprägte Überschneidungen mit der Arbeit französischsprachiger Analytiker aus Frankreich und Montreal aufweist. Diese Autoren beschreiben ein „drittes Modell“ des psychischen Apparates, das eine Frühphase des menschlichen Lebens postuliert, in der die Psyche im Kontext der das Baby versorgenden Umwelt betrachtet werden muss (Zwei-Personen-Modell); erst im Anschluss an diese erste Phase erfolgt eine Ausdifferenzierung dieses Modells zu einem der beiden Freud’schen (Eine-Person-)Modelle, d.h. zum topischen oder zum Strukturmodell. In der menschlichen Entwicklung geht die Zwei-Personen-Psyche der von Freud beschriebenen psychischen Autonomie der Triebe, der Abwehr und der intrapsychischen Phantasie zeitlich voraus. In ebendiesem Sinn hat André Green Winnicott gelesen; Brusset (2005b, 2006), Reid (2008a, 2008b) und andere folgten ihm. Dies könnte sich als ein weiterer „common ground“ der psychoanalytischen Forschung erweisen, als gemeinsame Grundlage, die sich international abzeichnet und sich dem

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