Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Beiden Modellen zufolge ist die neurotische Krankheit gleichbedeutend mit einem Krieg, den die Psyche gegen sich selbst und nicht etwa gegen die Außenwelt führt. Schon in den Studien über Hysterie (Freud 1893-95) beschrieb Freud Frauen, die im Anschluss an einen inakzeptablen, anstößigen Gedanken erkrankten, einen Gedanken, der ihren moralischen Idealen oder ihrem Stolz diametral entgegenstand. Bei diesen Frauen wurde der inakzeptable Gedanke durch die Mobilisierung einer inneren Abwehrmaßnahme isoliert. Sie konnten den verbotenen Wunsch repräsentieren und ihn, wenngleich nur kurz, als einen unannehmbaren Teil ihrer selbst erkennen. Darüber hinaus wurde die Repräsentation durch die Abwehr in Form der Verdrängung nicht zerstört. Exemplarisch ist der Fall der Lucy R.: Sie räumte auf Freuds Fragen ein, gewusst zu haben, dass sie in ihren Arbeitgeber verliebt war, aber: „Ich wußte es ja nicht oder besser, ich wollte es nicht wissen, wollte es mir aus dem Kopfe schlagen, nie mehr daran denken, ich glaube, es ist mir auch in der letzten Zeit gelungen“ (S. 174). Als Freud ihr seine Deutungen präsentierte, akzeptierte Lucy R. sie als vernünftige Erklärungen eines inneren Konflikts. Es gelang ihr, ihre Phantasie und ihr Wunschdenken von der äußeren Realität zu unterscheiden. Das „dritte Modell“ beschreibt eine völlig andere Situation aus der prähistorischen Zeit des Individuums, in der sein psychischer Apparat die Differenzierung, die Freud (1900) in der Traumdeutung beschreibt, noch längst nicht erreicht hat. Dem dritten Modell zufolge ist die Psyche nicht immer fähig, innerhalb ihrer eigenen repräsentationalen Welt zu operieren und sie als solche anzuerkennen. Sie ist zunächst auf einen Nebenmenschen (Freud 1950 [1895], S. 426) angewiesen, der dafür sorgt, dass sie nicht durch innere oder äußere Erregung überwältigt wird; darüber hinaus braucht sie die Verlässlichkeit, die Reverie und die gemäßigte Reaktion der Bezugsperson, um nach und nach zu lernen, zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden. Indem die Erwachsene die Funktion einer Reizschranke erfüllt und die Erregung des Kindes reguliert, ermöglicht sie es ihm, sich mit seinen libidinösen und aggressiven Strebungen als nicht-traumatischen Selbstanteilen vertraut zu machen. So beschreibt das dritte Modell eine Zeit im Leben des Menschen, die der von den ersten beiden Modellen erfassten vorausgeht. Das dritte Modell tauchte in der Theorie als letztes auf, beschreibt aber die erste Situation im Leben des Individuums überhaupt. Der Wolfsmann (Freud 1918) gibt eine Art des psychischen Funktionierens zu erkennen, die sich von Fräulein Lucy R.s subjektiver Wahrnehmung, dem Geruch „verbrannter Mehlspeise“ (Breuer und Freud 1893-1895, S. 164 passim), erheblich unterscheidet. Als er den verletzungsbedingten Verlust seines Fingers halluziniert, erkennt er den Impuls nicht als seinen eigenen an, sondern projiziert ihn nach außen. Seine Halluzination ist nicht „subjektiver“ Art. Auch die spätere psychotische Episode illustriert, dass er die neurotische Funktionsebene des Individuums nicht erreicht hat. Freuds Deutung der Kastrationsangst, die die Verletzung des Fingers mit dem Ausreißen des Baums in Zusammenhang brachte, blieb daher wirkungslos: der Wolfsmann hatte die Ebene eines psychischen Apparates, der den Reichtum einer auf den Trieb bezogenen Metapher anzuerkennen vermag, nicht erreicht.

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