Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Man könnte versucht sein, Melanie Kleins Konzept der projektiven Identifizierung auf diese Überlegungen Freuds zurückzuführen. Indes ist hinzuzufügen, dass Klein die Rolle der Spaltung in der Objektwelt – und nicht nur, wie Freud, im Ich – beschrieb, die das reiche, komplexe Universum der Beziehung zu Partialobjekten und der Identifizierungen entstehen lässt. Das Konzept der projektiven Identifizierung erfasst, wie psychische Objekte in verschiedene Personen – zunächst, zu Beginn des Lebens, in die Mutter oder einen Mutterersatz als Teilobjekt, „die Brust“, und später in die Person der Mutter als ganzes Objekt – projiziert werden. 1946 betrachtete Melanie Klein die projektive Identifizierung als eine intrapsychische Möglichkeit des Säuglings, sich von unerwünschten Affekten, Objekten und Selbstanteilen zu befreien, und als Mechanismus, durch den er sich in seiner (unbewussten) Phantasie die Kontrolle über die Mutter aneignet. Sie erklärte auch, dass diese projizierten Aspekte entweder gut oder böse sein können, und formulierte die Überlegung, dass die durch unbewussten Neid aktivierte projektive Identifizierung – in der Phantasie – die Funktion erfüllt, das Objekt des Neides zu zerstören. Da Klein der Ansicht war, der Säugling versuche, Gutes in sich zu behalten und Böses auszustoßen, nahm sie an, dass projektive und introjektive Identifizierung Hand in Hand gehen. Sie stellte fest, dass ein pathologischer Einsatz der projektiven Identifizierung das Subjekt in der illusorischen Illusion gefangen hält, den von Freud beschriebenen langen, schmerzhaften Prozess der Trauer zu vermeiden. Im kleinianischen theoretischen Bezugsrahmen betrachtet, wird dadurch die Entwicklung von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position verhindert. Klein konzipierte die projektive Identifizierung als eine unbewusste Phantasie – sowohl der „Projektionsanteil“ als auch der „Identifizierungsanteil“ bleiben unbewusst. Das Objekt oder Partialobjekt, das zum Empfänger der Projektion wird, muss nicht anwesend sein. Es ist auch nicht erforderlich, dass es die Projektion zur Kenntnis nimmt. Klein betonte, dass dieser Modus des Funktionierens – Spaltung / Verleugnung / Idealisierung / projektive Identifizierung – die Grenze zwischen äußerer Realität und psychischer Realität verschwinden lässt und es dem Subjekt erlaubt, in seiner Phantasie Macht über eine äußere Person bzw. einen Teil von ihr oder über ein inneres Objekt bzw. einen Teil von ihm zu erlangen. Die unbewusste Phantasie der projektiven Identifizierung ist ein mächtiger Prozess. Sie übt auf die Psyche der projizierenden Person (die durch die Projektion einen Teil ihrer Selbst verliert und sich dann beispielsweise sehr selbstsicher und selbstgerecht oder aber völlig leer fühlt) realen Einfluss aus. Unter bestimmten Umständen kann sie auch die Person, die die Projektion empfängt, real beeinflussen. Wilfred Bion hat Kleins Konzept der „projektiven Identifizierung als Abwehrphantasie“ erweitert, und zwar um ihre Funktion als normale, präverbale Kommunikationsform zwischen Mutter und Säugling. Er hielt diese frühen Kommunikationserfahrungen für extrem folgenreich und nahm an, dass die Fähigkeit zu

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