Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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denken davon abhängt, wie gut Mutter und Säuglich sich aneinander anpassen können. Ab 1962 beschrieb Bion (1962a, 1962b) die Entwicklung der kindlichen Denkfähigkeit (d.h. seiner Alpha-Funktion), die darauf beruht, dass rohe Sinnesdaten (Beta-Elemente) in der Mutter-Kind-Beziehung gehandhabt und auf diese Weise transformiert werden. Bions Entwicklung der Theorie des Geistes war insofern revolutionär, als er davon ausging, dass die Fähigkeit des Kindes, Erfahrung zu be-denken und zu handhaben, von der Beziehung zur Alpha-Funktion eines anderen Menschen, d.h. der Mutter, abhängig ist. Analog der Kant’schen Philosophie nahm Bion an, dass das Denken entsteht, damit Gedanken gedacht werden können. Denken ist demnach eine Entwicklung, die der Psyche unter dem Druck der Erfahrung aufgezwungen wird. Bion war überzeugt, dass das Baby, um überleben zu können, über eine eingebaute Erwartung (eine Präkonzeption ) der Existenz einer befriedigenden Brust verfügt. Sobald es diese Befriedigung sowohl körperlich als auch emotional erlebt (eine Realisierung ), beginnt es, eine Konzeption aufzubauen, die zur Grundlage der gesunden Entwicklung wird. Weil das Baby unweigerlich auch Distress erleben wird, fördert die Fähigkeit, Frustration zu ertragen, die Entwicklung der Fähigkeit zu „denken“, die ihm dann wiederum hilft, Versagungen zu bewältigen. Dieser Prozess setzt die Fähigkeit der Mutter voraus, die kindlichen Projektionen von Schmerz und Todesangst in ihrem eigenen Innern zu „containen“ [siehe den Eintrag CONTAINMENT: CONTAINER- CONTAINED]. Unter den besten Bedingungen können sich die Persönlichkeiten von Mutter und Säugling aneinander anpassen, so dass das Baby mit seinem rudimentären Realitätssinn Verhaltensweisen hervorbringen kann, die darauf zielen, in der Mutter diejenigen Gefühle zu wecken, deren es selbst sich entledigen möchte. Die Mutter kann diese Gefühle dann in sich verweilen lassen und bearbeiten, um sie dem Säugling schließlich in einer für ihn verdaulichen Form durch ihre Handreichungen zurückzugeben. Ihre Fähigkeit, das in sie hineinprojizierte toxische Material zu „containen“, beruht auf ihrer Reverie , d.h. ihrer Fähigkeit, über das projizierende Subjekt „nachzudenken“ oder zu „träumen“. Die Reverie ist ein Element der mütterlichen Alpha-Funktion (Bion 1962b), und das wiederholte Erleben dieses Prozesses ermöglicht es dem Kind, Gedanken und eine denkende Psyche zu entwickeln, die emotionalen Distress zu bewältigen vermag. Wenn hingegen die kindliche Präkonzeption einer befriedigenden Brust wiederholt enttäuscht wird und auf eine negative Realisierung (d.h. Deprivation) trifft, bildet sich ein böses Objekt (keine-Brust). Wenn die Mutter unfähig ist, die defensiven negativen Projektionen des Babys in sich aufzunehmen und zu containen, oder wenn das Baby über eine sehr geringe Frustrationstoleranz verfügt, bleibt das böse Objekt, das vom Kind nur durch Auslagerung bewältigt werden kann (Kleins projektive Identifizierung) präsent. Die Art und Weise, wie Mutter und Säugling diese projektiven Identifizierungen handhaben, bestimmt laut Bion die Entwicklung der kindlichen Fähigkeit, Affekte zu regulieren und ein effektives Ich-Funktionieren aufrechtzuerhalten. Bions Modell hat

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