Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Fällen. Der argentinische Analytiker Heinrich Racker hat in seinen bahnbrechenden Untersuchungen über die Gegenübertragung konkordante und komplementäre Identifizierungen als intrinsische Elemente der therapeutischen Beziehung beschrieben. In der konkordanten Identifizierung benutzt der Analytiker eigene Aspekte, um die Verläufe und die Bedeutungen der inneren Konflikte des Patienten zu verstehen – ein Prozess, der oft als Empathie bezeichnet wird. Sein Versuch, seine unbewussten komplementären Identifizierungen zu verstehen, hilft ihm gleichzeitig dabei, auch zu klären, welches innere Objekt des Patienten er in der Übertragung, im Hier und Jetzt der Analysestunde, repräsentiert – nicht selten eines, das verleugnet und durch projektive Identifizierung projiziert worden ist (Racker 1953, 1957). Unter diesem erweiterten Blickwinkel erweist sich die durch projektive Identifizierungen geprägte Gegenübertragung als ein unverzichtbares Instrument, mit dessen Hilfe der Analytiker die Objektwelt des Patienten gründlicher verstehen kann. Er kann diese Erfahrung dann nutzen, um die Projektion zu verarbeiten und sie dem Patienten nach und nach in modifizierter Form zurückzugeben – ganz so, wie eine Mutter es für ihren Säugling tut. Bion beschreibt diesen Prozess als Entwicklung der Alpha- Funktion, d.h. des Denkens, die der Analytiker unterstützt (siehe den Eintrag GEGENÜBERTRAGUNG). Komplementäre Identifizierungen bedeuten laut Racker, dass der Patient unweigerlich Aspekte des Unbewussten des Analytikers aktiviert. Sein argentinischer Kollege Leon Grinberg (1956, 1979) entwickelte das Konzept der „projektiven Gegenidentifizierung“ zur Beschreibung klinischer Begegnungen mit dem Ziel, “Störungen der psychoanalytischen Technik [zu definieren], die auf die exzessive Rolle zurückzuführen sind, die projektive Identifizierungen des Analysanden spielen. Sie lösen im Analytiker eine spezifische Reaktion aus […], die ihn ‚dazu bringt‘, auf unbewusste und passive Weise die verschiedenen Rollen, die ihm zugewiesen werden, zu übernehmen.“ (Grinberg 1956, S. 507) In einem seiner Texte zu diesem Thema diskutierte Grinberg (1979) den Unterschied zwischen Rackers Konzept der komplementären Gegenübertragung (Racker 1953) und seiner eigenen Idee der projektiven Gegenidentifizierung. Seiner Ansicht nach leitete sich Rackers Konzept von der Identifizierung des Analytikers mit einigen der inneren Objekte seines Patienten her, die er wie Objekte aus der eigenen Kindheit erlebt. Die emotionale Reaktion des Analytikers beruht so auf seinen eigenen Ängsten und Konflikten mit inneren Objekten, die denen des Analysanden ähneln. Bei der projektiven Gegenidentifizierung sieht die Situation hingegen wie folgt aus: “Die Reaktion des Analytikers entsteht vorwiegend unabhängig von seinen eigenen Konflikten und entspricht überwiegend oder ausschließlich der Intensität und Qualität der projektiven Identifizierung des Patienten. In diesem Fall hat der Prozess seinen Ursprung im Patienten und nicht im Analytiker. Es ist der Patient, der unbewusst und regressiv und aufgrund der spezifischen funktionellen psychopathischen Form seiner projektiven Identifizierung aktiv

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