Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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V. ABSCHLIEßENDE ÜBERLEGUNGEN

Melanie Kleins Einführung des Konzepts der projektiven Identifizierung im Jahr 1946 hat das psychoanalytische theoretische und klinische Denken weltweit maßgeblich beeinflusst. Klein entwickelte das Konzept, das in Freuds Konzepten der Projektion und der Identifizierung wurzelt, auf der Grundlage ihrer psychoanalytischen Erfahrungen mit Kindern und Erwachsenen. Sie verstand die projektive Identifizierung als einen intrapsychischen Mechanismus, durch den der Säugling sich unerwünschter Affekte, Objekte und Selbstanteile entledigt und durch den er sich in seiner (unbewussten) Phantasie der Kontrolle über die Mutter bemächtigt, indem er diese Aspekte seiner selbst in sie hineinprojiziert. Da Klein annahm, dass der Säugling Böses auszustoßen und Gutes in sich zu behalten bestrebt ist, betonte sie, dass projektive und introjektive Identifizierung Hand in Hand gehen. Klein unterstrich, dass diese Funktionsweise die Grenze zwischen äußerer Realität und psychischer Realität tilgt und es dem Subjekt erlaubt, in seiner Phantasie Macht über eine äußere Person oder ein inneres Objekt bzw. über Teile der äußeren Person oder des inneren Objekts zu gewinnen. Sie verstand die projektive Identifizierung als einen der frühen Abwehrmechanismen – zusammen mit Spaltung , Verleugnung und Idealisierung –, mit denen sie zusammenwirkt. Sie beobachtete, dass ein pathologischer Einsatz der projektiven Identifizierung das Subjekt in einer illusorischen Phantasie gefangen hält, den von Freud (1916-17) beschriebenen langen, schmerzvollen Trauerprozess vermeiden zu können, und dass sie auf diese Weise den von Klein konzipierten Übergang von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position erschwert. Wilfred Bion hat Kleins Konzept der „projektiven Identifizierung als Abwehrphantasie“ erweitert, indem er ihre Funktion als normale, präverbale Kommunikationsform zwischen Mutter und Säugling beschrieb. Laut Bion ist die projektive Identifizierung die primäre Kommunikationsmethode des Säuglings, der ungewollte, undenkbare und mitunter schreckenerregende Erfahrungen (Beta-Elemente) in die Mutter projiziert, die diese aufnimmt und „containt“ und durch ihre Alpha- Funktion – zu der die „Reverie“ einen wesentlichen Beitrag leistet – in Alpha-Elemente transformiert, die der Säugling introjizieren und dann für die Entwicklung primitiver Gedanken nutzen kann. Somit wird die projektive Identifizierung zur Grundlage für die Entwicklung der Denkfähigkeit des Säuglings. Die fundamentalen Theorien Kleins und Bions über projektive Identifizierung sind in allen drei IPV-Regionen weiterentwickelt worden. In Europa , speziell in England, haben mehrere Analytiker das Verständnis der projektiven Identifizierung vertieft. Auf dem Gebiet der Säuglingsbeobachtung und der klinischen Behandlung autistischer Kinder wurde eine der projektiven Identifizierung vorangehende Phase der adhäsiven Identifizierung beschrieben. In der

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