Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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IV. SOZIALE / KULTURELLE

Das Konzept der projektiven Identifizierung wurde von einigen psychoanalytischen Autoren benutzt, um Phänomene wie Missbrauch, malignes Vorurteil und Genozid besser zu verstehen. Vamik Volkan (1988) hat sich ausführlich mit der Frage beschäftigt, weshalb Menschen im Namen gemeinsamer ethnischer, nationaler, religiöser oder ideologischer Gefühle Morde begehen. Basierend auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) untersuchte Volkan (Varvin und Volkan, 2003; Volkan, 2014a, Volkan, 2014b) die Psychologie von Großgruppen und die Art und Weise, wie solche Gruppen Scham zu bewältigen versuchen, indem sie sie verleugnen und das Identitätsgefühl durch Externalisierung und Projektion stärken. Er benutzt den Begriff „deponieren“, um zu erklären, wie Hassgefühle über Generationen weitergegeben werden, wenn traumatisierte Erwachsene infolge von Krieg- oder Genoziderfahrungen, die die Großgruppenidentität bedrohen, traumatisierte Selbstimagines in die sich entwickelnden Psychen ihrer Kinder auslagern. Grotstein (2004) erläutert unter einem bionianischen Blickwinkel den exzessiven Einsatz projektiver Identifizierungen durch Kolonialisten, die eingeborene Völker unterdrückten und sich dabei auf einen vermeintlichen moralischen Imperativ der Reinigung der Heiden beriefen. Kernberg (2003a, b) versucht, schwere soziale Gewalt zu verstehen, indem er das Bedürfnis von Großgruppen beschreibt, sich mit einem charismatischen Führer zu identifizieren und ihm zu folgen, um das eigene Ich-Ideal zu verwirklichen und eine paranoide ideologische Starrheit zu vertreten. Ein „Anderer“ wird so entmenschlicht und zum Repositorium all des projizierten „Bösen“ gemacht. Auf diese Weise wird furchtbare Gewalt nicht nur gerechtfertigt, sondern bisweilen auch zu einem moralischen Imperativ erhoben. Susan Grands Buch The Reproduction of Evil (2000) stützt sich auf eine moderne relationale Perspektive, um das Böse auf einer interpersonalen Ebene zu verstehen, auf der es sich als Beziehung zwischen Täter und Opfer manifestiert. Grand beschreibt den Prozess, durch den der „Seelenmord“ an einem Opfer zur Bildung eines unerträglichen „Nicht-Selbst“ führt, das einzig durch die Transformation in einen Täter ausgelöscht werden kann, der diesen entmenschlichten Aspekt in sein Opfer evakuiert hat. Grand erklärt, dass „Othering“ mit einer Ich-Es-Beziehung (Buber 1937) einhergeht, in der die Unterdrückten ihre Menschlichkeit verlieren und zu einem Ding werden. Dieses Ding-Opfer muss dann zerstört werden, weil es die „Angst“ des Täters in sich birgt. Auf diese Weise erklärt Grand anschaulich, wie das Böse über die Generationen erzeugt und reproduziert wird, und hilft uns zu verstehen, was Menschen dazu bringt, andere zu hassen und zu vernichten.

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