Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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des Einflusses, den dieser ständige Fluss an projektiven Identifizierungen ausübt: die Auswirkungen seines eigenen Charakters und seiner Neurosen auf die projektiven Identifizierungen sowie den Einfluss, den spezifische projektive Identifizierungen des Patienten auf den Analytiker ausüben. Unter Umständen ist es möglich, die eigenen Abwehrbewegungen des Analytikers gegen psychischen Schmerz zu identifizieren und dann zu versuchen zu klären, mit welchem inneren Objekt oder Selbstanteil des Patienten der Analytiker in diesem Moment des Leidens, der Wut oder des Mitleids projektiv identifiziert ist. Der Vorteil, über analytische „work in progress“ während der Sitzung mit Blick auf projektive Identifizierungen nachzudenken, besteht darin, dass der Analytiker von seiner eigenen Analyseerfahrung und Selbstanalyse besseren Gebrauch machen kann, um die Art, die Intensität und die Pathologie der projektiven Identifizierungen des Patienten mit Bezug auf die verschiedenen inneren Objekte – im Allgemeinen Partialobjekte –, die in jedem Moment der Sitzung auf den Analytiker projiziert werden, sowie die Ursachen des Vorgangs zu untersuchen. Bion formulierte auf der Basis seiner Arbeit mit Gruppen und psychotischen Patienten bedeutsame Weiterentwicklungen des Konzepts der projektiven Identifizierung. Durch seine Konzipierung des Paares Container/ Contained wurde die Gewaltsamkeit oder Exzessivität der projektiven Identifizierung zu einer Funktion auch des empfangenden Containers, d.h. des unbewussten psychischen Funktionierens des Analytikers einschließlich seines Charakters, seiner Objektbeziehungsmodi und seines theoretischen Hintergrundes. Auch das Konzept der „negativen therapeutischen Reaktion“ wurde von Bion neu gefasst. Er erweiterte die klassischen Komponenten dieser Pathologie – wie Neid, Masochismus, Eifersucht und unbewusste Schuldgefühle – um die Pathologie der Beziehung Container/ Contained (Bion 1970). Indem er das Bedürfnis der Patienten nach einer bestimmten Art des Containments beobachtete, erkannte er in ihnen einen strukturellen Defekt , der in erster Linie mit einer unzureichenden Fähigkeit zusammenhing, basale organisierende Abwehrmechanismen durch gesunde Spaltung, Verleugnung und Idealisierung zu verankern, sowie eine Tendenz zur Regression in Zustände der Verwirrtheit . Seit den 1990er Jahren werden in der psychoanalytischen Säuglingsforschung neue Erkenntnisse gewonnen und neue Verbindungen zu den Neurowissenschaften zum Thema projektive Identifizierung und Container-Contained-Konfiguration hergestellt (siehe insbes. das Team der Tavistock Clinic, das Donald Meltzer und Martha Harris in Italien aufgebaut haben, mit den Arbeiten von Suzanna Maiello (2012) Michael Rustin und Margaret Rustin (1989, 2016, 2019). Auf dem Gebiet des Autismus erforscht Geneviève Haag (2018) ungemein detailliert den Unterschied zwischen projektiver Identifizierung und adhäsiver Identität bei autistischen Pathologien.

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