Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Überlegungen nach Argentinien brachten. Dieser Pionier der Sozialpsychologie, der sie auf beiden Seiten des Rio de la Plata nach Kräften gefördert hat, integrierte in seine Untersuchungen menschlicher Gruppen sowohl das gestalttheoretische Konzept des Feldes als auch kleinianische Konzipierungen der primitiven Objektbeziehungen. Seine Auffassung der inneren Welt maß allerdings dem internalisierten Erleben früher Beziehungen größere Bedeutung bei als den Triebfaktoren. Seiner Ansicht nach wird inneres Erleben als Erfahrungsgruppe organisiert, ein Ansatz, den er in verschiedenen sozialpsychologischen Untersuchungen, vor allem auf dem Gebiet der Psychiatrie, entwickelte. Dieses Modell war für Willy und Madeleine Barangers Konzept der Phantasie von der Sitzung als einer vom Paar erzeugten Phantasie von Einfluss. Vezzetti (1998) zufolge lernte Pichon Rivière die Gestaltpsychologie vermutlich durch sein Studium der französischen Denker Maurice Merleau-Ponty und Daniel Lagache kennen. Beiträge von Lagache wurde schon in den allerersten Ausgaben der Revista Uruguaya de Psicoanálisis 1956 publiziert und sind zweifellos in den intellektuellen Dialog der Region eingegangen. Lagaches Werk, das (in seiner Konzipierung von Geist/Psyche, Körper und Welt) Behaviorismus, Phänomenologie und psychoanalytische klinische Arbeit integriert, übte wiederum Einfluss auf José Bleger (1963) aus. In den 1950er und 1960er Jahren fanden all diese Ideen ein Echo in Uruguay, wo die phänomenologische Strömung andere Psychoanalytiker einschließlich Gilberto Koolhaas und Rodolfo Agorio beeinflusste. Überlegungen zur „psychoanalytischen Situation als einem dynamischen Feld“ wurden nach und nach formuliert, während Willy und Madeleine Baranger und die Gründungsgruppe der Psychoanalytischen Vereinigung Uruguays in einem kontinuierlichen Dialog mit führenden argentinischen Analytikern standen. Später erwähnte Willy Baranger (1979) die kreative Atmosphäre von Pichon Rivières Seminaren in Montevideo und nahm insbesondere auf dessen Überlegungen zum analytischen „spiralförmigen Prozess“ Bezug sowie auf die gemeinsame Liebe zur Dichtung des 19. Jahrhunderts, namentlich zum französisch-venezolanischen Lyriker Isidore Lucien Ducasse, der unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont die Gesänge des Maldoror veröffentlichte, die einem freieren psychoanalytischen Denken, das die Orthodoxie überwand, als Motto dienten. Freuds Werk war das Fundament der Ausbildung, hinzu aber kam eine Begeisterung für die neuen Theorien der frühen Objektbeziehungen, die Melanie Klein, Paula Heimann, Wilfred Bion und andere propagierten. Die Feldtheorie ermöglichte die Erforschung der unterschiedlichen manifesten Aspekte der analytischen Situation – der räumlichen, zeitlichen und funktionellen -, während die kleinianische Theorie die Säulen für ein Verständnis der zugrundeliegenden unbewussten Dynamik im Rahmen einer Konzipierung abgab, die von einer wechselseitigen Ko-determinierung der Feldphänomene ausging: „Die analytische Situation sollte […] formuliert werden […] als Situation von zwei unausweichlich verbundenen und komplementären Personen, die, solange die Situation besteht, an ein und demselben dynamischen Prozess beteiligt sind.“ In dieser Situation operiert „der Analytiker – trotz seiner notwendigen ‚Neutralität‘ und ‚Passivität‘ – als vollwertiger Teilnehmer“ (Baranger und Baranger 2018 [1961-62], S. 739).

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