Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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auf den Beziehungen zwischen Selbst und Objekten beruhen und sie die Transaktionsaspekte von Wachstum und Entwicklung betont, gründen sie letztlich in der klassischen Triebtheorie. Der Erwerb eines Gefühls der „Getrenntheit von“ und einer „Beziehung zu/mit“ hängt in allererster Linie mit dem Erleben des eigenen Körpers und der Beziehung zum ersten Liebesobjekt zusammen. Als maßgebliches Kennzeichen einer erfolgreichen Entwicklung betrachtete Mahler den Fortschritt von der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung zum Erwerb einer stabilen individuellen Identität in einer Welt berechenbarer und realistisch wahrgenommener anderer Menschen. Diesen Prozess bezeichnete sie als „Separation- Individuation“ oder als „psychische Geburt“ des Kindes. Separation und Individuation bilden komplementäre, aber voneinander unterschiedene Entwicklungsprozesse. Die Separation ist definiert als das Auftauchen des Kindes aus der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter, während die Individuation aus jenen Entwicklungserrungenschaften besteht, die schließlich zum Erwerb typischer individueller Eigenschaften des Kindes führen (Mahler et al. 1993 [1975], S. 14). Zunächst nahm Mahler an, dass der Säugling zu Beginn eine Phase des „normalen Autismus“ durchläuft, bevor er in eine Phase der Symbiose eintritt, der sich die vier aufeinander folgenden Subphasen des Separations-Individuationsprozesses – Differenzierung, Üben, Wiederannäherung und Objektkonstanz – anschließen (Mahler et al. 1993 [1975]). Nachdem sie erkannt hatte, dass Säuglinge von Geburt an ihre Umwelt mitsamt den darin befindlichen Objekten wahrnehmen, ließ sie das Konzept der auf dem primären Narzissmus und einer Reizschranke beruhenden normalen autistischen Phase, die sie auf die ersten beiden Lebensmonate datiert hatte, fallen. In ihrer späteren Theorie wurde aus der Reizschranke ein „Reizfilter“ - ein Begriff, den Blum (2004b) ihr vorgeschlagen hatte. Doch obwohl Mahler das Konzept der autistischen Phase schließlich verwarf und ihre Auffassungen der symbiotischen Phase modifizierte, halten viele europäische Analytiker an ihrer ursprünglichen Beschreibung beider Phasen als archaische Vorläufer (Prähistorie) der Selbstentwicklung fest und vertreten die Ansicht, dass bestimmte Elemente in unterschiedlich konzeptualisierten schweren Selbstpathologien von Kindern wie auch Erwachsenen potentiell manifest vorhanden seien. Mahlers ursprüngliche Beschreibung sieht für die Phase des normalen Autismus ein relatives Fehlen der Besetzung äußerer Reize vor; physiologische Vorgänge dominieren gegenüber psychischen Prozessen. In diesem Zustand eines absoluten primären Narzissmus besteht das Ziel darin, eine homöostatische Balance des Organismus in seiner neuen äußeren Umwelt herzustellen. Der autistische Zustand ist ein Zustand der Undifferenziertheit von der oder der Verschmelzung mit der Mutter, in dem das Ich vom Nicht-Ich noch nicht geschieden ist und innere und äußere Realität erst nach und nach als unterschiedlich wahrgenommen werden können. Vom zweiten Lebensmonat an, in der symbiotischen Phase, befindet sich der Säugling in einem Zustand „halluzinatorisch-illusorischer somatopsychischer Fusion“

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