Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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(Mahler et al. (1993 [1975], S. 63), in dem er Objekte nur verschwommen wahrnimmt. Diese symbiotische Beziehung entwickelt sich in einem intrapsychischen Kontext, in dem es zwischen dem Selbst und der Anderen keine Grenzen gibt (Fonagy 2003 [2001), S. 81). Die auf das Kind abgestimmte Mutter stellt durch Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Berührung, Halten usw. einen angemessenen affektomotorischen Dialog mit dem Säugling her, erhält diesen Dialog aufrecht und trägt so zur Integration von Affektmodulation und –regulation bei (Blum 2004). Mahlers ursprüngliche Beschreibung ließ die symbiotische Phase in dem Moment beginnen, in dem die Reizschranke oder autistische Schale, die äußere Reize vom Kind fernhält, zusammenbricht. Der Säugling beginnt das Objekt, das seine Bedürfnisse befriedigt, verschwommen wahrzunehmen. Er befindet sich in einem Zustand der „Zweieinheit“, in dem das Selbst noch keine klaren Grenzen hat. Nach und nach entwickelt er eine neue, durch Beharrlichkeit und Intentionalität charakterisierte Einstellung – ein Zeichen dafür, dass das Kind „ausschlüpft“. Wenn es im Alter von 4- 6 Monaten beginnt, mit Loslösung und Individuation zu experimentieren, setzt die Strukturierung der internalisierten Selbstrepräsentationen ein, die sich von den inneren Objektrepräsentationen unterscheiden. Die Phase der Separation-Individuation beginnt etwa mit dem 4. bis 6. Monat und endet etwa im Alter von 36 Monaten. Sie umfasst mehrere Subphasen: Die erste Phase bezeichnete Mahler als das „Ausschlüpfen“. Das Kind beginnt, die Repräsentation seines Selbst von seiner Mutterrepräsentanz zu differenzieren (Mahler et al. 1993 [1975], S. 63), indem es nicht länger mit dem Körper der Mutter zu verschmelzen versucht, sondern aktiv und selbstbestimmt zu explorieren beginnt. Während der zweiten Subphase, der Phase des “Übens”, übt sich das Kind vom 19. bis 15./16. Lebensmonat in der Fortbewegung, um seine körperliche Getrenntheit von der Mutter zu vergrößern und den Differenzierungsprozess fortzusetzen. Dies ist die Phase, in die Mahler die eigentliche „psychische Geburt“ des Kindes datiert. Mit dem aufrechten Gang erweitert sich sein Horizont, und das Kind hat das Gefühl, dass ihm die Welt zu Füßen liegt. Greenacre (1957) bezeichnete diese Zeit als den Höhepunkt der kindlichen „Liebesaffäre mit der Welt“. Gemäß Mahlers Konzeptualisierung ist sie der Höhepunkt sowohl des (sekundären) Narzissmus als auch der Objektliebe (Mahler et al. 1993 [1975]). Im selben Zeitraum erreicht das Kind auch „den Gipfel seiner ‚magischen Omnipotenz‘, die es aus dem Gefühl ableitet, daß es Anteil an den magischen Kräften seiner Mutter hat“ (Fonagy 2003 [2001], S. 75). In der Subphase des Übens, in der das Kind zu laufen lernt, setzt in enger Nähe zur Mutter auch die Bildung des autonomen Ich-Apparates ein. Diese Entwicklungslinie ermöglicht es dem Kind, einen Teil seines Interesses von der Mutter abzuziehen und es unbelebten Objekten zu widmen – eine libidinöse Besetzung im Dienst der autonomen Ich-Aktivität. Die Subphase der “Wiederannäherung/Rapprochement” dauert etwa vom 15.- 18. Monat bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres und geht mit dem Gewahrsein

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