Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

von Getrenntheit, mit Trennungsangst und mit einem verstärkten Bedürfnis einher, sich der Nähe der Mutter zu vergewissern (Mahler et al. 1993 [1975]). Das Kind, das zuvor immer selbständiger wurde, realisiert nach und nach, dass die Welt sehr groß und es selbst winzigklein ist. Ihm wird allmählich bewusst, dass die Mutter eine von ihm getrennte Person ist, die nicht immer und jederzeit zur Verfügung steht. Damit beginnt die von Mahler so genannte Wiederannäherungskrise. Während dieser Wiederannäherungskrise verhält sich das Kind emotional ambivalent: es schwankt zwischen dem Wunsch, sich an die Mutter zu klammern, und einem sehr starken Bedürfnis nach Getrenntheit (Greenberg und Mitchell 1983). Zugleich vollzieht sich eine rasante Entwicklung der autonomen Ich-Funktionen, die sich vor allem durch bemerkenswerte Fortschritte des Spracherwerbs und durch das Auftauchen einer Realitätsprüfung bemerkbar macht. Geschlechtsunterschiede und Geschlechtsidentität treten ins Bewusstsein und interagieren mit dem Differenzierungsprozess. Die optimale emotionale Verfügbarkeit der Mutter sowie ihre Fähigkeit, die kindliche Ambivalenz zu akzeptieren, ermöglichen es dem Kleinkind, seine Selbstrepräsentation mit libidinöser Energie zu besetzen. Die Angst, die Liebe des Objekts zu verlieren, tritt an die Stelle der Angst, das Liebesobjekt selbst zu verlieren. Wenn das Kind in der Wiederannäherungskrise nach und nach der Illusion eigener Größe entsagt – häufig nicht ohne dramatische Auseinandersetzungen mit der Mutter - , benutzt es die Mutter typischerweise als Erweiterung seines Selbst, denn dies ermöglicht es ihm, das schmerzvolle Gewahrsein der Getrenntheit vorübergehend zu verleugnen. Für das Schwinden der infantilen Omnipotenz wird es durch selektive Identifizierungen mit der kompetenten, toleranten, liebevollen Mutter entschädigt (Blum 2004). Der Erwerb der “Objektkonstanz” im Alter von 24 bis 36 Monaten sowie der Selbstkonstanz bildet die abschließende Subphase des Separations- Individuationsprozesses und repräsentiert einen bedeutsamen Meilenstein der Entwicklung. Die beiden vorrangigen Aufgaben dieser Phase ist der Aufbau eines stabilen Selbst- und eines stabilen Objektkonzepts im Kontext all der kindlichen Objektbeziehungen (Greenberg und Mitchell 1983). Im optimalen Fall kann das Kind ein Gefühl seiner eigenen Individualität aufrechterhalten und auch die Andere als innere, positive besetzte Präsenz wahrnehmen. Es kann in Abwesenheit der Mutter/der Anderen eigenständig funktionieren und beginnt, umfassender zu verstehen, dass sein eigenes Erleben und das der Mutter nicht identisch sind, dass die Mutter eine von ihm selbst getrennte Psyche besitzt und dass sie eigene Interessen und Absichten hegt. Weil das Kleinkind die Güte der Mutter und ihre Regulationsfunktionen mittlerweile internalisiert hat, fällt es ihm leichter, Trennungen, Versagungen und Enttäuschungen zu tolerieren. Etwa im Alter von 36 Monaten ermöglichen die Reifung der Ich- Funktionen und die libidinöse Objektkonstanz die Konsolidierung eines Identitätsgefühls und die Getrenntheit. Mahler führte die klassische Triebtheorie und die entwicklungspsychologische Objektbeziehungstheorie in ihrem Konzept der Symbiose zusammen, das sowohl eine in der Realität bestehende Beziehung als auch eine libidinös determinierte innere

639

Made with FlippingBook - Online magazine maker