Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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V.B. Selbstpsychologische Perspektiven

Heinz Kohut Heinz Kohut (1971, 1977, 1984) entwickelte die Selbstpsychologie, weil ihm zunehmend deutlich wurde, dass das Freud’sche Trieb-Abwehr-Modell seine eigenen klinischen Erfahrungen mit dem breiten Spektrum der Persönlichkeitsstörungen nicht zu erklären vermochte. Während sich die klassische Psychoanalyse auf die Psychopathologie als Ergebnis der gegen unbewusste Impulse und Bedürfnisse gerichtete Abwehrreaktion des Patienten konzentrierte, beobachtete Kohut, dass die Deutung dieser unbewussten Konflikte seine Patienten da, „wo sie wirklich lebten (und litten)“, nicht wirklich zu erreichen vermochten (Kohut 1971, 1977). Offensichtlich entsprachen seine Patienten nicht dem Modell der durch unbewusste Impulse hervorgerufenen, erdrückenden Schuldgefühle. Ihnen schien vielmehr ein resilientes, kraftvolles Selbstgefühl zu fehlen. Statt des von ihm so genannten freudianischen „schuldigen Menschen“ lernte Kohut (1977) den „tragischen Menschen“ kennen, der unter einem Gefühl der Leere und Verzweiflung litt. So begann er zu untersuchen, was in der Entwicklung des Menschen zwischen Kindern und Eltern geschehen muss, damit sich ein angemessenes Selbstgefühl entwickeln kann. Das Selbst der Kohut’schen Selbstpsychologie ist bei der Geburt noch nicht vorhanden, sondern taucht nachgeburtlich durch die Beziehung zu Bezugspersonen auf (Galatzer-Levy und Cohler 1990). Kohut verstand das Selbst schließlich als eine durch Erfahrung und nicht durch innere Triebe determinierte funktionale Einheit. Im Einklang mit seinen Überlegungen zur Entwicklung des Selbst legte Kohut (1975 [1966]) auch eine Neubewertung des Narzissmus vor. In seinen Augen ist der Narzissmus weder pathologisch noch unerwünscht, sondern Teil der menschlichen Erfahrung. Er verstand ihn als normales Entwicklungsphänomen, das ein Identitätsgefühl, ein Gefühl der Beständigkeit und das Gefühl, wertvoll zu sein, vermittelt. Als Transformationen des Narzissmus beschrieb Kohut „1. die schöpferische Begabung und Arbeit, 2. die Einfühungskraft, 3. die Fähigkeit, die Begrenztheit des eigenen Lebens ins Auge zu fassen, 4. [den] Sinn für Humor und 5. die Weisheit“ (S. 154). Die narzisstische Entwicklungslinie ist von Beginn des Lebens an aktiv und dient als Voraussetzung eines angemessenen Funktionsniveaus der Persönlichkeit. Kohuts Integration des Narzissmus in die gesunde Persönlichkeit war eine radikale Abkehr von der entwertenden Beurteilung des Narzissmus in der traditionellen psychoanalytischen Weltsicht (Siegel 1999). Das Herz der Selbstpsychologie ist das Selbst, der Kern der Persönlichkeit, verstanden als ein psychisches System, das die subjektive Erfahrung des Individuums in Bezug auf eine ganze Anzahl von Entwicklungsbedürfnissen organisiert (Wolf 1988). Dazu zählen die Begabungen, Talente, Defizite und das Temperament, das man von Geburt an mitbringt. Das Selbst, die Essenz unseres psychischen Seins, besteht aus

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