Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Daniel N. Stern Stern (1985), ein in Nordamerika ausgebildeter Analytiker, der sowohl in den USA als auch in Europa wirkte, hat ein Modell der Entwicklung des Selbst formuliert, in dem er die Erkenntnisse der Säuglingsforschung mit der psychoanalytischen Theorie zusammenführte. Bei der Geburt erlebt der Säugling die Welt als ein Trommelfeuer zusammenhangloser sensorischer Reize, die er nach und nach zu verknüpfen lernt, indem er sich Hinweise wie den „hedonischen Tonus“ (die emotionale Qualität) sowie die zeitlichen und Intensitätsmuster zunutze macht, die solche Stimuli aufweisen. Dieser Prozess des Integrierens und Organisierens von Erfahrung in der von Stern so genannten Phase des „auftauchenden Selbst“ dauert etwa zwei Monate lang an. Er schafft eine Grundlage für die kindliche Lernfähigkeit und Kreativität. Etwa im Alter von zwei Monaten gelangt die kindliche Organisation der Sinneserfahrungen an einen Punkt, an dem der Säugling sein Erleben hinreichend organisieren kann, um integrierte episodische Erinnerungen zu speichern. Dies ermöglicht es ihm, seine weiteren Erfahrungen auf einer höheren Ebene zu organisieren, indem er mithilfe transmodaler sensorischer Stimuli diskrete, unveränderliche Objekte identifiziert und diese benutzt, um Generalisierungen bezüglich dessen, was er künftig von seiner Umwelt erwarten kann, zu bilden. In diesem Prozess wird sich das Kind auch eigener Eigenschaften (Selbst-Invarianten) bewusst, die ihm das Gewahrsein eines Kern-Selbst als einer von den Objekten in seiner Umwelt unterschiedenen Entität vermitteln. In dieser Phase entwickelt es auch generalisierte Repräsentationen seiner Interaktionen mit der primären Bezugsperson - ein Konzept, das mit der Bindungstheorie zusammenhängt und sich an ihr orientiert. Eine wichtige Rolle der Bezugsperson steht in dieser Zeit darin, den Säugling bei der Affektregulation zu unterstützen. Wenn alles gut geht, wird das Kind diese Erfahrungen mit der primären Bindungsperson internalisieren, so dass sie ihm künftig bei der Selbstregulation seiner Affekte helfen können. Etwa mit sieben Monaten beginnt das Baby zu erkennen, dass seine Gedanken und Erfahrungen sich von denen anderer Menschen unterscheiden und dass zwischen seiner eigenen subjektiven Realität und derjeniger anderer eine Diskrepanz besteht. Wenn sich die primäre Bindungsfigur aber angemessen auf das Kind abzustimmen vermag, wird es auch wahrnehmen, dass diese Diskrepanz durch intersubjektive Erfahrungen – z.B. durch gemeinsame Affekte und Aufmerksamkeitsfoki – überbrückt werden kann. Diese Erfahrungen helfen ihm, ein subjektives Selbst aufzubauen. Fehlt eine solche Abstimmung, weil die Mutter z.B. unter einer Depression leidet, bleiben dem Säugling die notwendigen intersubjektiven Erfahrungen verwehrt. Er lernt nicht, bedeutungshaltige Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen. Stern sieht hier eine Grundlage der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie der Antisozialen Persönlichkeitsstörung. Im Alter von etwa 15 Monaten entwickelt das Kind die Fähigkeit zu symbolischer Repräsentation; es lernt zu sprechen und wird fähig,

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