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Kinder werden als onei-san , ältere Schwester, oder onii-san , älterer Bruder, angesprochen. Sie alle sind potentielle Bezugspersonen im Leben eines Kindes und vermitteln ihm durch die Zugehörigkeit zur Gruppe ein Gefühl der Sicherheit. Alan Roland (1991) beschreibt einen krassen Gegensatz zwischen dem Konzept des “familiären Selbst”, das seiner Ansicht nach in der japanischen Psyche dominiert, die aus den subtilen emotionalen hierarchischen Beziehungen der Familie und Gruppe hervorgeht, und dem “individualisierten Selbst” der westlichen Welt. Reischauer (1977) weist allerdings auch darauf hin, dass die Japaner weniger stark an die Familie an sich als vielmehr an die sie umgebenden Gruppen gebunden sind. Dies könnte auf ein “Gruppenselbst” in dem Sinn schließen lassen, dass Kinder schon sehr früh ihren Platz in einer Gruppe identifizieren und internalisieren. Eine traditionelle rituelle Feier, Hichi-Go-San , illustriert diese Dynamik. Kinder im Alter zwischen zwei bis drei, vier bis fünf und sechs bis sieben Jahren werden, in traditionelle Gewänder gekleidet, zum Schrein ihrer Gemeinde begleitet. Dort werden sie im Rahmen einer kollektiven Feier, die den Abschluss ihrer Kindheitsphase markiert, mit Süßigkeiten und Spielsachen beschenkt.
IV. PSYCHOANALYTISCHE IMPLIKATIONEN DES AMAE-KONZEPTES
Wie schon erwähnt, löste Dois ursprüngliche Definition von amae als „Anlehnung“, “Abhängigkeitsbedürfnis”, “Hilflosigkeit” und “Wunsch, geliebt zu werden”, eine Reihe theoretischer und klinischer Debatten aus, wenngleich sie die für japanische Menschen und klinische Interaktionen spezifische amae- Psychologie in vielerlei Hinsicht zutreffend und einsichtig erfasste (Doi, 1973). In der Entwicklung geht amae dem Spracherwerb des Kindes voraus. So sagen zum Beispiel Japaner von einem Kleinkind, das sein Verlangen nach der Mutter aktiv äußert: “Das Kind ist schon sehr stark emotional abhängig ( amaeru ).” Dieses fortgesetzte Verlangen nach der Nähe der Mutter wird als emotionale Konfiguration bewusst und unbewusst ins Zentrum des emotionalen Lebens positioniert. Zu vergleichen ist dies mit Freuds Erläuterungen zur psychoanalytischen Verwendung des Begriffs “Sexualität”: “Wir gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort ‘lieben’” (Freud, 1910, S. 120). In diesem Sinn verstehen die Japaner den Ödipuskomplex, in dem sich Liebe und Sexualität miteinander verbinden, obgleich es für das deutsche Wort “lieben” oder das englische “to love” im Japanischen keine Entsprechung gibt. Analog dazu könnte man sagen, dass amae den Hauptstrom unseres emotionalen Lebens vor dem Ödipuskomplex bildet, und zwar auch außerhalb Japans in einer Welt, der das Wort amae unbekannt ist. Wie Liebe ist amae ein sprachlicher Begriff, der aber anders als “Liebe” die Sexualität nicht mit abdeckt. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Elemente von amae in verschiedenen, von Ambivalenz
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