Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

fühlte. Doch es gab noch weitere Gründe: Die Patientin „erspart“ sich so „jede Muskelanstrengung und jeden ablenkenden Sinneseindruck […], die sie in der Konzentration ihrer Aufmerksamkeit auf ihre eigene seelische Tätigkeit stören könnten“ (Freud 1904 [1903], S. 5). Und was sein persönliches Befinden betraf, so teilt er mit: „Da ich mich während des Zuhörens selbst dem Ablauf meiner unbewussten Gedanken überlasse, will ich nicht, dass meine Mienen dem Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen“ (Freud 1913, S. 467). Vor dem Hintergrund einhundertjähriger Erfahrung halten wir diese Empfehlungen auch heute noch für gerechtfertigt. Die Verwendung der Couch als Möglichkeit, dem Patienten die Konzentration auf seine inneren Vorgänge zu erleichtern, ist auch einer psychischen Regression zuträglich, die der Äußerung unbewusster Phantasien und Konflikte im Netzwerk der Assoziationen zugutekommt. Winnicott (1955) nahm an, dass das analytische Setting die Voraussetzungen schafft, unter denen traumabedingte und andere Entwicklungsstörungen Ausdruck finden, so dass sie bearbeitet und gedeutet werden können und eine Weiterentwicklung möglich wird. (Siehe unten, „Setting und Regression“). Zeit . Die Dauer der Sitzungen beträgt 45 bis 50 Minuten. Die Behandlung wird hochfrequent mit drei bis fünf Wochenstunden durchgeführt. Auch wenn sich die Gesamtdauer einer Analyse nicht pauschal bestimmen lässt, weil sie individuell, von Patient zu Patient, variiert, wissen wir doch, dass sie gewöhnlich viele Jahre in Anspruch nimmt. Je gründlicher man das psychische Leben und insbesondere die primitiven und psychotischen Ebenen, die jeder Patient besitzt, zu verstehen lernte, desto langwieriger wurden die psychoanalytischen Behandlungen. Heute ist die Sitzungsfrequenz ein umstrittenes Thema. Manche Analytiker betrachten die Anzahl der Wochenstunden als irrelevant, für andere ist sie wichtig. Erstere sind der Ansicht, dass allein die Haltung und die analytische Funktion des Analytikers oder sein „inneres Setting“ zählen. Dem widersprechen diejenigen, die eine intensive Beziehung für erforderlich halten, damit der Analytiker überhaupt eine auf den spezifischen Patienten abgestimmte analytische Funktion entwickeln und ein adäquates inneres Setting erwerben kann; eine hohe Sitzungsfrequenz gilt ihnen dafür als Voraussetzung. Sie messen der hohen Frequenz aber auch für den Patienten und dessen Fähigkeit, sein Seelenleben mittels freier Assoziationen auf den tiefsten Ebenen erforschen und vor allem die Deutungen des Analytikers durcharbeiten zu können, große Bedeutung bei. Freud (1913) schrieb bezüglich der Anzahl der Wochenstunden: „Ich arbeite mit meinen Patienten täglich mit Ausnahme der Sonntage und der großen Festtage, also gewöhnlich sechsmal in der Woche. Für leichte Fälle oder Fortsetzungen von weit gediehenen Behandlungen reichen auch drei Stunden wöchentlich aus. Sonst bringen Einschränkungen an Zeit weder dem Arzte noch dem Patienten Vorteil; […] bei seltener Arbeit besteht die Gefahr, dass man mit dem realen Erleben des Patienten nicht Schritt halten kann, dass die Kur den Kontakt mit der Realität verliert und auf Seitenwege gedrängt wird“ (S. 459f.). Eine hohe Sitzungsfrequenz ist zwar keine hinreichende Bedingung, wird aber von zahlreichen Analytikern für notwendig

706

Made with FlippingBook - Online magazine maker