Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Wahrnehmung aller ‚Dinge‘ von dem geliebten Objekt offen und deswegen in der Lage ist, die projektiven Identifikationen des Kindes [des Patienten] aufzunehmen, gleich ob sie von dem Kind [vom Patienten] nun als gut oder böse empfunden werden“ (S. 84). Andere wichtige Komponenten des inneren Settings sind die Neutralität und die Abstinenz. Laplanche und Pontalis (1973 [1967]) definieren Neutralität als eine Eigenschaft der „Haltung des Analytikers bei der Behandlung“ (S. 331): Er soll „neutral sein im Hinblick auf religiöse, moralische und soziale Werte […]; „neutral in bezug auf Übertragungsmanifestationen“ (ebd.) und „neutral schließlich gegenüber den Worten des Analysierten, das heißt nicht dieses Fragment oder jenen Bedeutungstypus von vornherein aufgrund theoretischer Vorurteile bevorzugen“ (ebd.). Anna Freud (1936) definierte die Neutralität als gleichermaßen weite Distanziertheit des Analytikers vom Ich, Über-Ich und Es des Patienten. Laplanche und Pontalis (1973 [1967]) definieren den Grundsatz der Abstinenz als Regel, „dem Patienten die Befriedigung seiner Wünsche zu versagen und tatsächlich die Rolle zu übernehmen, die dieser bestrebt ist, ihm aufzudrängen“ (S. 22). Freud (1912, 1913, 1914) erörterte die Gefahren des therapeutischen Übereifers in seinen behandlungstechnischen Beiträgen. So empfahl er dem Analytiker bekanntlich, sich „während der Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen“ (Freud 1912, S. 380) – ein Ratschlag, der zu Fehlinterpretation und Kritik einlud, weil man ihn mitunter wörtlich nahm (ein Ergebnis war die Karikatur des schweigenden Analytikers). Rycroft (1985) betonte, dass der Analytiker nicht nur „korrekte“ Deutungen geben, sondern seinen Patienten auch eine Beziehung anbieten müsse, in der sich ein analytischer Prozess entwickeln kann. Aron (2001) unterstrich die Asymmetrie der Patient-Analytiker-Interaktion. Sie besteht zum einen darin, dass allein der Analytiker dafür verantwortlich ist, den Behandlungsrahmen durch Analyse wiederherzustellen, wenn einer der Beteiligten oder beide gegen ihn verstoßen haben (solche Verstöße sind unvermeidlich). Dies ist ein ethisches Gebot und berührt zugleich einen metapsychologischen Aspekt, der mit den Pflichten und Funktionen des Analytikers zusammenhängt. Neutralität und Abstinenz bilden auch die Grundlage der ethischen Dimension der Einstellung, die Analytiker gegenüber ihren Patienten und ihrer Arbeit beziehen. Ohne eine genuine Verinnerlichung dieser Fähigkeiten könnten ihre narzisstischen Bedürfnisse sie womöglich veranlassen, die Verwundbarkeit der Patienten auszunutzen. Die Untersuchung von Verstößen gegen die Ethik (Gabbard und Celenza 2003) hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie wichtig und bedeutsam die analytische Abstinenz ist und dass der Analytiker seine Gegenübertragung fortwährend beobachten und kontrollieren muss. Der Begriff inneres Setting wird zwar gewöhnlich in Bezug auf den Analytiker verwendet, doch gibt es keinen Grund, nicht auch von einem inneren Setting des Patienten zu sprechen. Die Spezifität der analytischen Situation besteht in dessen Bereitschaft, der Äußerung unbewusster Affekte, Konflikte und Phantasien keinen Widerstand entgegenzusetzen, und in der Bereitschaft des Analytikers, für all diese Äußerungen offen zu sein. Damit der Patient seine unbewussten Phantasien in Worte

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