Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Seinszustand des Analytikers, der sein Bestes gibt, um frei von T(K) mit maximaler Offenheit, d.h. ohne Erinnerung und Wunsch, zu beobachten. Im Folgenden drei grammatikalisch ambiguöse Passagen, die die Schwierigkeit, Bions Text zu interpretieren, veranschaulichen: „I. Eine Rezeptivität, die durch das […] Ausschalten von Erinnerung und Wunsch erreicht wird, ist für das Operieren der Psychoanalyse und anderer wissenschaftlicher Verfahren unabdingbar. Sie ist unabdingbar für das Halluzinieren oder den Zustand der Halluzinose. [Alternative, enger am Original bleibende Übersetzung: ‚Sie ist unabdingbar, um Halluzination oder den Zustand der Halluzinose zu erleben ‘ – experiencing halluzination or the state of hallucinosis; E.V.]. Ich betrachte diesen Zustand nicht als eine Übersteigerung einer pathologischen oder auch nur natürlichen Verfassung. Ich betrachte ihn vielmehr als einen stets gegenwärtigen Zustand, der allerdings durch andere Phänomene verdeckt und überlagert wird.“ (Bion 2006 [1970], S. 45f.) „II. […] um Halluzination anerkennen zu können, muß der Analytiker am Zustand der Halluzinose teilhaben [ participate ].“ (Ebd., S. 46; Hervorhebg. ergänzt ) „III. Indem er Erinnerungen und Wünsche sowie die Operationen des Erinnerns verbannt, kann [der Analytiker] sich dem Bereich der Halluzinose und der ‚Glaubensakte‘ annähern, durch die allein er mit den Halluzinationen seiner Patienten eins werden [become at one ] kann, um O → K-Transformationen in Gang zu setzen.“ (Ebd., S. 46; Hervorhebg. ergänzt) Die erste und die zweite hervorgehobene Passage lassen offen, wer das Halluzinieren oder den Zustand der Halluzinose erlebt bzw. daran teilhat. Erlebt der Analytiker selbst Halluzination? Hat er selbst daran teil? Diese scheinbar direkte Lesart kontextualisiert die Verben „experiencing“ und „participate“ als Aspekte der Technik, also dessen, was der Analytiker in der Sitzung tut. Demnach scheint Bion dem Analytiker zu empfehlen, zu halluzinieren und/oder sich aktiv am halluzinatorischen Zustand zu beteiligen. Eine alternative Lesart bezieht die Verben auf die analytische Gesamtsituation, d.h. der Analytiker erlebt die Analyse und hat an ihr teil, indem er seine Aufgabe oder Rolle oder analytische Funktion erfüllt, während er mit dem Zustand der Halluzinose seines Patienten arbeitet. Dies kontextualisiert den Text eher als Beschreibung der Beobachtungshaltung. Die dritte hervorgehobene Formulierung wiederum könnte, als behandlungstechnische Aussage gelesen, nahelegen, dass das „Einswerden“ mit den Halluzinationen des psychotischen Patienten auf eine Art Verschmelzung mit ihm abzielt. Als Beschreibung der Beobachtungshaltung gelesen, würde der wissenschaftliche „Glaubensakt“ der reinen, unkontaminierten Beobachtung den Analytiker in den engstmöglichen Kontakt mit dem Objekt seiner Beobachtung, „den Halluzinationen seiner Patienten“, bringen, um „O → K-Transformationen in Gang“ setzen zu können.

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