Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Bion empfahl letztlich, dass klinische Beobachtung grundsätzlich mit einer maximalen Offenheit des Analytikers für Transformationen in Halluzinose einhergehen und beginnen müsse. Dies ist aus theoretischer Perspektive logisch, weil diese Haltung Analytikern erlaubt, klinisches Material wahrzunehmen, das einer Beobachtung in T(K) nicht zugänglich ist. So schrieb Bion (1997 [1965]): „Der Bereich des Psychoanalytikers ist derjenige, der zwischen dem Punkt liegt, an dem eine Person Sinneseindrücke empfängt, und jenem, an dem er der erfolgten Transformation Ausdruck gibt“ (S. 72f.). Dies ist der konzeptuelle Bereich, in dem Transformationen von Sinneseindrücken – eindeutige Halluzinationen inbegriffen – hin zu Produkten, T(β), in K erfolgen, denen der Analytiker „Ausdruck gibt“ in Gedanken und Worten. Präziser wird Bion in folgenden Passagen: „IV. Das Konzept der Halluzinose muß erweitert werden, um zu einer Reihe von Konfigurationen zu passen, von denen gegenwärtig nicht erkannt wird, daß sie dasselbe sind. V. Halluzination ist als eines der Medien der starren oder projektiven Transformation zu verstehen.” (Ebd., S. 169; Übers. geändert) Bion verlieh der Aussage unter IV zusätzlichen Nachdruck, als er schrieb: „Ich betrachte diesen Zustand nicht als eine Übersteigerung einer pathologischen oder auch nur natürlichen Verfassung. Ich betrachte ihn vielmehr als einen stets gegenwärtigen Zustand, der allerdings durch andere Phänomene verdeckt und überlagert wird.“ (Bion 2006 [1970], S. 46). Das Potential, durch Suspendierung von Erinnerung und Wunsch, d.h. T(K), mit maximaler Offenheit zu beobachten, um Transformationen in Halluzinose zu ermöglichen, ist ubiquitär; durch einen wissenschaftlichen „Glaubensakt“ und unterstützt durch analytisch geschulte Intuition ist der Analytiker bestrebt, jede klinische Beobachtung grundsätzlich in diesem Zustand durchzuführen. Aussage V lässt trotz hochgradiger Verdichtung keinen Zweifel daran, dass starre und projektive Transformationen, die beide dem Modell T(K) entsprechen, aus dem primitiveren Bereich der ubiquitären Transformationen in Halluzinose hervorgehen. Am Ende muss jeder Leser, muss jede Leserin entscheiden, wie er/sie Bions Texte über diese Themen für sich selbst am sinnvollsten interpretiert. II. E. BIONS TRANSFORMATIONEN DURCH DIE LINSE DER KOMPLEXITÄT BETRACHTET (LATEINAMERIKANISCHE PERSPEKTIVE) Bion betonte, dass das Geschehen in der menschlichen Psyche nicht durch vorhersagbare Relationen wie Ursache und Wirkung konstituiert wird, sondern durch nichtlineare Prozesse wachsender Komplexität (Chuster 2014). Die Theorie der Transformationen hat den Vorteil, emotionales Erleben zu screenen und das analytische Feld dadurch um einen neuen Bereich zu erweitern, indem sie es nicht als Feld von Ursache und Wirkung, von Ursprüngen und Erklärungen

767

Made with FlippingBook - Online magazine maker