Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

konzipiert, sondern als ein Feld zahlreicher Deutungsmöglichkeiten aufblühender Bedeutungen. Es verändert sich in jedem Augenblick, so dass jede Deutung das Prinzip der Ungewissheit berücksichtigen muss. Psychoanalyse ist der Beginn einer breiten, komplexen Untersuchung eines lebenden, komplexen Objektes: der Psyche. II. Ea. Einführung des Vertex der Komplexität Um sein Konzept eines derart komplexen Objekts zu erweitern, verortete Bion die Psychoanalyse ins Feld der Kunst und ins Feld der Mathematik. Ihm ging es darum, Beobachtungen eines in ständiger Veränderung betriffenen Subjekts zu untersuchen, und dies verlangte nach einer ganz neuen Denkweise, nämlich nach der gleichzeitigen Verwendung zahlreicher Vertices, wie sie in einem nicht-euklidischen Raum zur Anwendung kommen. Die Beziehung zwischen Kunst, Psychoanalyse und Mathematik ist ein Beispiel für Komplexität. Bion schlug, kurz gesagt, eine Brücke zwischen unterschiedlichen Disziplinen in einem Raum, der zu keiner der Disziplinen gehört. Diese Brücke erzeugt einen Strom imaginativer Gedanken bezüglich wissenschaftlicher Knoten, der Ungewissheit von Ideen, der Widersprüche der Logik, um eine permanente Spannung bei der Suche nach Wissen (K-Verbindung) zu erzeugen, die u.U. der Unvollständigkeit der psychoanalytischen Untersuchung entspricht. Bions Beispiel des Monet-Gemäldes zu Beginn von Transformations, auf das er 1968 auch in seinem Seminar in Buenos Aires zu sprechen kam (Bion (2010 1990]), sowie dessen aktuelle Reproduktionen und Ausarbeitungen (Aguayo, Pistiner de Cortinas und Regeczkey 2018) fordern den Leser auf, sich das Beobachtungsmodell impressionistischer Maler zueigen zu machen: „[…] nehmen wir ein berühmtes Bild, zum Beispiel ein berühmtes impressionistisches Gemälde von Monet. Wir bewundern es, fotografieren es und dann kennen wir K. Das heißt, wir wissen, dass das Bild Mohnblumen in einem Feld sowie ein paar Häuser in der Ferne zeigt, und wir können die Wege ausmachen, die uns dorthin führen“ (Aguayo, Pistiner de Cortinas und Regeczkey 2018, S. 44). Unter maßgeblichem Einfluss der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass das Auge Farben mischt, brachten die impressionistischen Maler ihre Farben mit Pinselstrichen in solcher Weise auf die Leinwand, dass das Auge sie mischen kann. Wenn der Beobachter eine „hinreichend gute Distanz“ wahrt, wird er das Bild „mit seinen Emotionen sehen“ (den emotionalen Eindruck erleben, den das Bild weckt). Geht man zu nahe an das Gemälde heran, sieht man nur Verschwommenes, ist der Abstand zu groß, stellt sich der emotionale Eindruck des Bildes nur abgeschwächt oder gar nicht ein. Gleiches gilt für den Analytiker, wenn er den Patienten mittels einer Deutung „malt“.

768

Made with FlippingBook - Online magazine maker