Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Die allgemeine, in der Kunst gefundene Idee ist der andersartige Blick, den ein Maler (oder Psychoanalytiker) haben kann, während er gleichzeitig mit Invarianten arbeitet, die von den Betrachtern wiedererkannt werden (oder auch nicht). „Der Maler ist dank seiner künstlerischen Fähigkeit in der Lage, eine Landschaft (die Realisierung) in ein Gemälde (die Repräsentation) zu transformieren. Er tut das mit Hilfe von Invarianten, die seine Repräsentation verständlich machen“ (Bion 1997 [1965], S. 25). Hauptthema ist die Fähigkeit des Malers, mithilfe von Invarianten und Variablen eine Interpretation der Realität hervorzubringen. Woher stammt diese Fähigkeit? Bion bezeichnete ihren Ursprung als „O“ (ebd., S. 37). In diesem Zusammenhang versteht Chuster die ursprüngliche Bedeutung von „O“ als „Ontos on“ (wie in Ontologie), was soviel wie „das wirklich Seiende“ bedeutet. Das Konzept „O“ ist eine Erweiterung des Grundkonzepts der Präkonzeption, die eine Realisierung sucht, damit eine Konzeption entstehen kann (Bion 2013 [1962]). Im Wesentlichen soll ein solches Modell zumindest für ein paar wenige Momente unsere Auffassung der klassischen psychoanalytischen Konzepte – Unbewusstes, Widerstand, Wiederholung, Triebe usw. – verändern. Daher könnte „O“ laut Chuster (2018) auch „opus“ im Sinne von „work in progress“ in jede Richtung bedeuten, d.h. sowohl auf den Analytiker als auch auf Analysand, Theorie, Praxis, Logik und Epistemologie bezogen. Bion (1997 [1965]) hat diese Überlegungen wie folgt zusammengefasst: „Indem ich die psychoanalytische Erfahrung im Lichte […] einer Theorie der Transformationen betrachte, ist es möglich, die Probleme des Denkens noch einmal neu zu sehen“ (S. 64). Zum Beispiel regte Bion an, die Phänomene des Widerstandes unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten, den er als „Unzugänglichkeit von O“ bezeichnete. O ist beiden Seiten der analytischen Verbindung unzugänglich. Auf jeden Fall aber machen solche Anregungen das allgemeine Ziel des Textes deutlich, nämlich die Übertragung als verschiedenartige Transformationen aufzufassen. Das ist eine neue Denkweise, die die Psychoanalyse um Komplexität erweitert (Chuster 2018). Kurzum, wenn man den Vertex der Komplexität benutzen kann, um Bions Überlegungen zu verstehen, ist es möglicherweise einfacher zu erkennen, dass er empfahl, bei jedem Schritt und bezüglich eines jeden Konzeptes, auf das man bei der Arbeit zurückgreift, auf eine andere Weise zu denken. Daher wird die Übertragung durch Gefühle der Überraschung vrmittelt; sie ist das neue und unbekannte Element im Feld.

II. Eb. Genese von ‘O’ und die Relevanz der Raum-Zeit-Theorie Die Idee von “O” ist in gewisser Weise ein Pendant zur Kant’schen Formel: „Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. Chuster

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