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der Grundregel, die von uneingeschränkter Freiheit ausgeht, ist eine bemerkenswerte Paradoxie inhärent: „Sagen Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt.“ Seit 1912 findet Freuds Grundregel der Psychoanalyse Anwendung, indem Patienten aufgefordert werden, alles, was ihnen einfällt (Vorstellungen, Gefühle, Körpersensationen, Träume) möglichst bewertungsfrei, d.h. unzensiert, auszusprechen. Zwischen 1912 und 1915 arbeitete Freud in einer Reihe behandlungstechnischer Schriften das Zusammenspiel zwischen dem Assoziationsprozess des Patienten und dem entsprechenden Prozess des Zuhörens und Deutens seitens des Analytikers als Säulen, welche die psychoanalytische Situation und den psychoanalytischen Prozess strukturieren, weiter aus. In „Zur Dynamik der Übertragung“ (1912b) erklärt er im Rahmen seiner Erörterung der Übertragung als Widerstand, dass der Patient sich „die Freiheit herausnimmt, die psychoanalytische Grundregel zu vernachlässigen” (S. 373) – laut Strachey (SA 8, S. 164, Fn. 1) “Freuds erste explizite Erörterung der Unterscheidung zwischen ‘positiver’ und ‘negativer’ Übertragung”. In einem weiteren technischen Beitrag, “Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung”, bringt Freud (1912e) die freien Assoziationen des Patienten mit dem komplementären Pendant seitens des Analytikers in Verbindung. Mit folgenden Worten beschreibt er die “psychoanalytische[] Grundregel”: “Anforderung an den Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu erzählen, was ihm einfällt” (S. 377). Und einige Seiten später: “Wie der Analysierte alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung erhascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affektiven Einwendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen […]” (S. 381). Was die entsprechende Regel für den Analytiker betrifft, so erklärt Freud, dieser habe „allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ‘gleichschwebende Aufmerksamkeit’, wie ich es schon einmal genannt habe, entgegenzubringen” (S. 377) und auf “alle Hilfsmittel […], selbst das Niederschreiben”, zu verzichten (S. 377). Zur weiteren Klärung fügt er hinzu: “Die Regel für den Arzt läßt sich so aussprechen: Man halte alle bewußten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‘unbewußten Gedächtnisse’, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke” (S. 378). Sodann fasst Freud die innere Haltung des Analytikers in seiner berühmen Telephonmetapher dahingehend zusammen, dass sie ihm als Orientierung zum Verständnis des Unbewussten des Patienten dient. Erneut unterstreicht er hier die zuhörende Haltung des Analytikers als Gegenstück zum freien Assoziieren des Patienten:
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