Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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einem Zustand der Halluzinose vollkommen klar. Die ‚Bedeutung‘ einer Aussage in Halluzinose ist jedoch nicht identisch mit der Bedeutung, die diese Aussage im Bereich des rationalen Denkens besitzt.“ (Bion 2006 [1970], S. 46f.; Hervorhebg. ergänzt) Die erste hervorgehobene Formulierung drückt aus, wie Bion den Gegenstand auf der Couch wahrnahm oder „interpretierte“ – nämlich so, wie wahrscheinlich jeder Analytiker: Es ist ein Kissen mit Muster darauf, das Ergebnis, T(β), der Transformationen in K, T(K), des Analytikers, der es betrachtet. Ohne zu beschreiben, wie er Transformationen in Halluzinose beobachtete, schildert er das Resultat, T(β), transformiert in seine Gedanken, T(K): „[…] die Muster [waren] in Wirklichkeit meine Worte, die durch seine Augen zu ihm hingelangten“. Diese beiden beobachteten Resultate könnten unterschiedlicher nicht sein, und der Unterschied ist entscheidend für die (An-)erkennung psychotischer Zustände. Bion stellt klar, dass die „Bedeutung“, die er in Anführungszeichen setzt, mit Sinneseindrücken zusammenhängt, „und Sinneseindrücke haben in diesem Bereich keine Bedeutung“ (ebd., S. 47). Grundsätzlich müsse der Psychoanalytiker mit geschulter analytischer „Intuition“ (Bion 1997 [1965], S. 76) zuhören, um die Gesamtsituation erfassen und Transformationen in Ideen wie die, dass „die Muster in Wirklichkeit meine Worte waren“, anstoßen zu können. Analytiker müssen beobachten und die „Bedeutung“ intuieren, die „in einem Zustand der Halluzinose vollkommen klar“ ist. Folglich ist die geschulte Intuition ein zentrales Element der analytischen Beobachtung und der Transformation dessen, was beobachtet wird. Das eigentliche Problem ist die Frage, wie der Analytiker Transformationen in Halluzinose beobachten kann. Diese Schwierigkeit betrifft weit mehr als lediglich technische Fragen; sie berührt den psychischen Zustand und den Seinszustand eines Analytikers, der Transformationen in Halluzinose beobachten will. Im Rahmen des Modells formuliert: Der Analytiker strebt einen Zustand an, der völlig frei von T(K) ist, d.h. er will Erinnerung, Wunsch, Erklärung und Denken während des Beobachtens möglichst weitgehend suspendieren. Diesen psychisch-geistigen Zustand direkt zu beschreiben ist unmöglich, weil Beschreibung eine Funktion von T(K) ist. In Aufmerksamkeit und Deutung hat Bion versucht, Eigenschaften dieses Beobachtungszustandes durch Bezeichnungen wie „O werden“, „O sein“, „mit O eins sein“, „letzte Realität und Wahrheit“, „das gestaltlose Unendliche“, „unsagbare Erfahrung“ oder „Glaubensakt“ zu evozieren. Bions Text wird extrem mehrdeutig, wenn er die Beziehungen zu beschreiben versucht, in der Halluzinose und Transformationen in Halluzinose zur klinischen Gesamtsituation stehen. Man darf nicht vergessen, dass Bion nicht über Behandlungstechnik schrieb, sondern dass Beobachtungsmodelle sein Thema waren. Dieser Unterschied ist entscheidend: Liest man seinen Text als behandlungstechnischen Beitrag, könnte man annehmen, Bion erteile Ratschläge, was in der klinischen Situation wie zu tun sei; versteht man ihn als Beobachtungsmodell, dann versucht Bion, zu beschreiben, was unbeschreiblich ist, d.h. den psychischen Zustand und den

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