01-2017 D

Nächstenliebe siegt über Angst

«Habt keine Angst – Erschrecke nicht – Seid ohne Furcht – Schau nicht ängstlich umher»: Diese Anweisun- gen kommen in der Bibel immer wie- der vor – insgesamt 366 Mal, als woll- te Gott uns jeden Morgen neu daran erinnern. Und trotzdem: Was gibt es Schwierigeres, als genau das zu be- folgen? Ich bin sicher, dass Gott die Auffor- derung, keine Angst zu haben, so oft wiederholt, weil wir sie so schnell ver- gessen und uns doch wieder vor et- was fürchten. Damit sind wir aber nicht alleine: Zuerst hatten Adam und Eva Angst, als sie merkten, dass sie nackt waren, und Gott sie im Garten suchte. Mose fürchtete sich, als sich sein Stab in eine Schlange verwandelte, aber noch mehr, als Gott ihm auftrug, zum Pha- rao zu gehen. Er überwand schliesslich seine Angst und packte das Reptil am Schwanz – aber allein zum Pharao zu gehen, das verweigerte er. Jona hat- te so grosse Angst vor der Aufgabe, die vor ihm lag, dass er in die Gegen- richtung floh. Maria bekam es mit der Angst zu tun, als ihr ein Engel erschien, und sogar von Jesus heisst es, dass «die Angst ihn ergriff» (Matthäus 26,37), kurz bevor er verhaftet wurde. Angst ist also keine Sünde, sondern eine menschli- che Reak-tion, die Gott verstehen kann. Er hat Adam und Eva Kleider gemacht, stellte Aaron an die Seite von Mose, gab Jona eine zweite Chance und ermutigte Maria. Viele Ängste, eine Motivation Und was hat Nächstenliebe mit Angst zu tun? In der Bibel heisst es: «In der Liebe gibt es keine Furcht, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus.» (1. Johannes 4,18). Ein Beispiel dafür ist Es- ther: Sie hat ihren Mann, den König, seit einem Monat nicht mehr gesehen. Nun soll sie unaufgefordert vor ihn treten.

Damit riskiert sie, von ihm zurückgewie- sen zu werden und sterben zu müssen. Aus Liebe zu ihrem Volk gelingt es ihr jedoch, ihre Angst zu überwinden. Ähnlich ist es bei den interkulturellen Mitarbeitenden: Auch sie haben mit Ängsten im Hinblick auf ihren Einsatz zu kämpfen – «Angst, dass die Kinder krank werden.» – «Angst vor den Insek- ten.» – «Angst, dass wir uns nicht gut genug anpassen können und eine De- pression entwickeln.» Manchmal sind es auch ganz erstaunliche Aussagen – ein Mitarbeiter, der in einem Krisenge- biet mit bewaffneten Konflikten lebte, meinte einmal: «Ja, ich habe Angst, aber weniger, als wenn ich in ein Flugzeug steigen muss!» Doch so verschieden die Ängste sind, es gibt einen gemeinsa- men Grund, die Angst zu überwinden, trotz allem ins Einsatzland zu gehen und dort zu dienen: die Nächstenliebe. Als ich nach Guinea ausreiste, habe ich den Vers aus 1. Johannes 4,21b als Be- gleitvers ausgewählt: «Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.» Dieser Vers hat mich während der ganzen Zeit in Guinea begleitet und mir in schwieri- gen Situationen geholfen, mich immer wieder bewusst für die Liebe zu ent- scheiden. Unterschiedliche Ängste … Eine Anekdote zum Abschluss: Jeden Donnerstagabend gebe ich Asylsu- chenden Französischunterricht. Die ge- läufige Frage der Schweizer ist: «Hast du keine Angst vor diesen Fremden?» Auf der anderen Seite begleitet mich jede Woche ein Flüchtling nach Hause, weil sie Angst haben, dass mich ein Schwei- zer in den Strassen meines Dorfes an- greifen könnte

Madeleine DERIAZ, ehemaligeMitarbeiterin im ProTIM 2-2-2 Kissidougou

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