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wurden hohe Krebsraten im Landesvergleich festgestellt, insbesondere bei Kindern. Tarent sollte für seine Schönheit bekannt sein, sagt Castellana, nicht für seine schmutzige Industrie. Zu den vielen Hoffnungen, die für Menschen wie Castellana mit der Wiederbelebung der Via Appia verbunden sind, gehört, dass die Erschlie- ßung ihrer Geschichte für den Tourismus das Schicksal des italienischen Südens wenden kann. Süditalien gilt seit Langem klischeehaft als veraltet und mit Kriminalität durchsetzt. Auf meinem Weg von Tarent nach Brindisi, dem Endpunkt der Via Appia, unterbreche ich die Reise in Mesagne. In der einst ummauerten Stadt treffe ich Simonetta Dellomonaco, Vor- sitzende der regionalen Filmkommission, die mir ihren Leitspruch preisgibt: „Kultur ist der einzige Treibstoff, der das Umfeld nicht ver- schmutzt, je mehr man konsumiert.“ Als Dellomonaco hier aufwuchs, war Mesagne als Geburtsort der Sacra Corona Unita bekannt, einer Mafia-Organisation aus der Region Apu- lien. Heute vollzieht er einen gewissen Image- wandel – etwa als idyllische Kulisse im neuen James-Bond-Film. Unmittelbar vor der Stadt haben Archäologen den letzten sichtbaren Abschnitt der ursprüng- lichen Pflasterung freigelegt. Vor Kurzem war eine Delegation des Kulturministeriums vor Ort, die das Bewerbungsverfahren für die Aufnahme der Via Appia in das Unesco-Welterbe einleitet. Und die Investition in sein historisches Erbe hat Mesagne in die Endauswahl für Italiens Kultur- hauptstadt 2024 gebracht. „Es heißt immer: Alle Wege führen nach Rom“, sagt Dellomonaco. „Dafür endet der wichtigste Weg hier.“ V. DAS ZIEL „UNTER DEN RÖMERN florierte Brindisi und er- reichte seine größte Pracht“, erzählt eine Reise- leiterin einer kleinen, um sie gescharten Gruppe. „Rom hatte die Bedeutung des Hafens erkannt. Von Brindisi aus brachen sie in den Osten auf.“ Es ist der alljährliche „Tag der Via Appia“ und ein sonniger Oktobernachmittag. Um 266 v. Chr. trafen die Römer hier ein, besiegten die messapi- sche Zivilisation und vollendeten die Via Appia mit Brindisi als Endpunkt. Die Fremdenführerin steigt eine Treppe hinauf zu den berühmten Säulen, die den Abschluss der Straße formen. Die Reisegruppe formiert sich für

ein Foto um eine hoch aufragende Säule sowie den Sockel einer Zwillingssäule (der Säulen- schaft wurde vor Jahrhunderten einer Nach- barstadt geschenkt). „Die beiden Säulen gelten gemeinhin als das Ende der Via Appia“, sagt sie. „Aber diese Ansicht ist umstritten.“ Das lässt mich aufhorchen. Der Anfangspunkt der historischen Via Appia war doch ungewiss, aber das Ende, dachte ich, schien klar zu sein: zwei Säulen, durch die man wie durch einen Rahmen auf die Adria blickt. Tatsächlich ergab eine Analyse des Marmors, dass die Säulen wohl erst zwei Jahrhunderte spä- ter errichtet wurden. Ein Archäologe, der an den Ausgrabungen der Via Appia beteiligt ist, rät mir, die Suche nach dem Ende der Straße nicht allzu ernst zu nehmen. Die Via Appia sei wie ein wan- delhaftes Chamäleon, mal eine Straße, mal ein

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