NATIONAL GEOGRAPHIC

E X P L O R E R |

E S SAY

Katastrophen, die entstehen, wenn solche Gefah- ren auf eine gefährdete, verwundbare Bevölkerung treffen, sind menschengemacht. Wir dürfen nicht zulassen, dass die globale Klimakrise für alle wetter- bedingten Katastrophen verantwortlich gemacht wird und die Zuständigen in Politik und Verwaltung sich aus der Pflicht stehlen. Der Klimawandel ist nicht für alles verantwortlich, und internationale Bemühungen zur Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs sind nicht der einzige wichtige Weg, den wir gehen müssen, um Katastrophen abzumildern. WIR DÜRFEN PROBLEME in Infrastruktur, Sozialsyste- men, Bildung und Regierungsführung nicht beiseite wischen oder ignorieren, wenn wir eine zunehmende Widerstandsfähigkeit gegenüber zukünftigen Wetter- risiken erreichen wollen. Mit der globalen Reduk- tion von Emissionen allein ist es nicht getan. Die Menschen vor Ort müssen die Anpassung an den Klimawandel schaffen. Das ist nur möglich, wenn Krisen und Vulnerabilitäten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern gemeinsam gelöst werden. Ohne Bildung von Frauen und Mädchen, ohne Investitio- nen in Institutionen kann Anpassung nicht funktio- nieren. Die Schuld dem Klima zuzuschieben, lenkt nicht nur von der Verantwortung ab, sondern nimmt betroffenen Gesellschaften auch die Entscheidungs- freiheit. Das muss sich ändern. Hier trägt auch der Globale Norden eindeutig eine Verantwortung, da einige der Strukturen, auf denen die hohe Verwundbarkeit beruht, Folgen des Kolo- nialismus sind. Die Welt braucht einen gerechten Weg, um mit Verlusten und Schäden umzugehen und diese historische Verantwortung anzuerkennen. Reiche Nationen haben sich verpflichtet, zig Mil- liarden Dollar auszugeben, um ärmeren Nationen bei der Anpassung an den Klimawandel zu helfen. Aber ich fürchte, dass dieses Geld oft für die falschen Dinge ausgegeben wird. Entwicklungsbanken finanzieren eher große Infrastrukturprojekte wie Staudämme als längerfristige Programme, die die Regierungsführung verbessern, die Armut verringern, die Korruption bekämpfen und die Bildung verbessern. Wenn die meisten Menschen an Anpassung an den Klimawan- del denken, denken sie an Technologie. Die Forschung zeigt jedoch, dass der wichtigste Faktor, der die Wider- standsfähigkeit einer Gesellschaft angesichts von Katastrophen bestimmt, gute Regierungsführung ist. Infrastruktur wird natürlich auch benötigt, aber

„ES IST NIEMANDEM GEHOLFEN, WENN WIR DIE KLIMAKRISE SO VEREINFACHT DARSTELLEN, DASS SICH EIN FALSCHES BILD ERGIBT.“

sie wird in Gesellschaften mit schlechter Regulierung oder Bildung nicht optimal funktionieren. Als eine der Gründerinnen von World Weather Attribution liegt mir nichts ferner, als den Klima- wandel kleinzureden. Wenn Politiker mit Verweis auf die Wissenschaft den Klimawandel als Killer bezeichnen können, hilft ihnen das sicherlich, Emis- sionsbegrenzungen durchzusetzen. Insbesondere unsere bemerkenswerten Analysen der Hitzekuppel über dem westlichen Nordamerika im letzten Som- mer und der Hitzewelle in Sibirien im Jahr 2020, die beide ohne den Klimawandel praktisch unmöglich gewesen wären, haben jede Menge Schlagzeilen gemacht und dazu beigetragen, die Diskussion zum Besseren zu wenden. Ja, global betrachtet verschlimmert der Klimawan- del Überschwemmungen, Dürren, Wirbelstürme und Waldbrände in vielerlei Hinsicht. Ja, die Menschheit muss alles in ihrer Macht Stehende tun, um unsere Treibhausgasemissionen schnell auf Netto-Null zu senken, um den weiteren Temperaturanstieg des Pla- neten zu stoppen. Aber wir haben noch viele andere wichtige Aufgaben, die wir nicht vergessen dürfen. Der Klimawandel ist das größte Problem unserer Zeit, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Menschheit zusammenarbeitet, um es anzugehen. Aber wir können und dürfen nicht zulassen, dass Politiker den Klimawandel allein für alle Katastro- phen und alle ihre Auswirkungen verantwortlich machen oder sich ihrer Verantwortung entziehen. Es ist niemandem geholfen, wenn wir die Klimakrise so vereinfacht darstellen, dass sich ein falsches Bild ergibt. Eine gerechte Welt, in der die Auswirkungen von Katastrophen nicht überproportional von den Armen getragen werden, verlangt das von uns. j

Die gebürtige Kielerin Friederike Otto ist Klimaforscherin, Physikerin und Philosophin. Sie arbeitet am Imperial College London und berechnet dort in Echtzeit, wie viel Klimawandel in unserem Wetter steckt. Zur Person

FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA/FRIEDERIKE OTTO/DAVID FISHER

Made with FlippingBook flipbook maker