Die gemeinnützige National Geographic Society fördert die Erforschung und den Schutz der Wunder unserer Erde. Sie finanzierte die Arbeit der National Geographic Explorer Hannah Nordhaus und Adalgisa Caccone.
Die Seeleute waren auf der Jagd nach Gala- pagos-Riesenschildkröten. Die Tiere unter- scheiden sich von Insel zu Insel – manche haben kuppelförmige Panzer, bei anderen ist der Panzer am Hals nach oben geschwungen wie ein spanischer Reitsattel. Jedes einzelne bot Nahrung für mehrere Seeleute. Fanden sie eine Schildkröte, dann drehten sie sie um, banden Segeltuchriemen an ihre Beine und hievten sie sich wie einen Rucksack auf den Rücken. Die größten Exemplare, mehr als 225 Kilogramm schwer, banden sie an den Bei- nen an lange Stangen und schleppten sie mit vier bis sechs Mann über das holprige Lava- gestein zurück zum Schiff. Im Laderaum türmten die Männer sie wie Stapelschüsseln aufeinander. „Die Tiere essen und trinken nicht, und man kümmert sich nicht im Geringsten um sie“, schrieb Owen Chase, erster Offizier der Essex . Das Schiff nahm mehr als 60 Schildkröten von Floreana mit, wegen ihrer geschwungenen Panzer Sattelrücken genannt. Wie der Schiffsjunge Nickerson schrieb, hatten sie „das aroma- tischste und köstlichste Fleisch, das ich je gegessen habe“. Schließlich brach das Schiff zu den Walfanggebieten im Pazifik auf, wo es einen Monat später ein Wal rammte – es war die Katastrophe, die Herman Melville zu seinem Roman „Moby Dick“ inspirierte. Die Seeleute retteten aus dem sinkenden Schiff so viele Schildkröten, wie auf ihre kleinen Bei- boote passten; sie aßen sie – und schließlich auch einander – auf ihrer verhängnisvollen Rückreise zum südamerikanischen Festland. Die übrigen Schildkröten sanken mit dem Schiff oder trieben auf dem Meer davon. Die Essex war bei Weitem nicht das einzige Schiff, das Schildkröten raubte. Während der Reise, die ihn zu seiner Evolutionstheorie inspirieren sollte, landete Charles Darwin 1835 auf Floreana. Dort hörte er von Walfang- schiffen, die bei einem einzigen Besuch bis zu 700 Schildkröten mitnahmen. „Ihre Zahl ist auf dieser Insel natürlich stark zurückge- gangen“, schrieb er. Nach Schätzungen von Historikern nahmen zwischen 1774 und 1860
vorüberfahrende Schiffe etwa 100 000 der fast 300 000 Schildkröten mit, die zur Zeit der Ankunft der Spanier im Jahr 1535 auf den Inseln gelebt hatten. So ging die Population aller 15 Galapagos-Riesenschildkrötenarten stark zurück, drei Arten starben aus. Die Flo- reana-Riesenschildkröte war die erste, die verschwand. Zuletzt wurde sie in den 1850er- Jahren gesichtet. Heute, fast 200 Jahre später, ist die Floreana- Schildkröte dafür die erste ausgestorbene Galapagos-Art, die an ihren angestammten Lebensraum zurückkehren soll. Die Wieder- belebung dieser riesigen Kreaturen fällt in eine Zeit, in der die angebliche Wiederauferstehung des „Schattenwolfs“ Aenocyon dirus Schlagzei- len macht und Wissenschaftler daran arbeiten, die Gene weiterer lange ausgestorbener Lebe- wesen wiederherzustellen, etwa die des Woll- haarmammuts. Solche prähistorischen Arten würden allerdings in eine Welt zurückkehren, die seit Jahrtausenden ohne sie existiert hat. Die Nachkommen der Floreana-Schild- kröten hingegen kehren an den Ort zurück, an den sie einst gehörten. Sie spielen eine ent- scheidende Rolle in einem Ökosystem, das sie noch immer dringend braucht. Um dies zu erreichen, hat ein Team engagierter Wissen- schaftler die Grenzen der Gensequenzierung ausgereizt und eine bisher verborgene Spezies identifiziert. Sie bereisten entlegene Winkel des Archipels und durchsuchten in staubigen Archiven Knochen und Panzer, um eine der größten Missetaten der Geschichte der Gala- pagosinseln wiedergutzumachen. Ihre faszinierende wissenschaftliche Reise begann im Jahr 2000, als ein Team von Naturschutzbiologen die dicht bewachsenen Schluchten am Fuße des abgelegenen Vulkans
2 9
Made with FlippingBook flipbook maker