von bäuerlicher Wirtschaft geprägten Land- schaften. Ein Grund ist der Klimawandel, der in den Bergen extremer ausfällt. Hannes Vogelmann vom Institut für Meteorologie und Klimaforschung des Karlsruher Instituts für Technologie in Garmisch-Partenkirchen geht von einer mindestens doppelt so starken Erwär- mung in den Alpen aus wie im globalen Mittel. Im bayerischen Berchtesgaden verzeichnete eine Messstation in den letzten zehn Jahren eine Erwärmung von 3,7 Grad. „Im gleichen Zeitraum ist die Temperatur global im Durch- schnitt um 0,39 Grad gestiegen. Wir reden hier von einem Faktor zehn!“, sagt er. Das empfinde er als „ziemlich beunruhigend“, fügt der Wis- senschaftler hinzu. Unwetter mit Starkregen lassen kleine Ge birgsbäche in kürzester Zeit zu reißenden Strö- men anwachsen – wie etwa an der berühmten Bob- und Rodelbahn Königssee im Juli 2021, die durch eine Schlammlawine zerstört wurde. Vier Jahre zuvor kamen bei einem Bergsturz und dem dadurch ausgelösten Murgang im Graubündner Bondascatal acht Wanderer ums Leben. Ursachen: tauender Permafrost, schmel- zende Gletscher, mit Wasser übersättigte Böden und Sedimente. Andernorts fällt monatelang kein Niederschlag – wie im vergangenen Winter in Norditalien. Flüsse trockneten aus, die Land- wirtschaft litt; Speicherteiche in Skigebieten waren leer, sodass Schneekanonen abgeschal- tet werden mussten – zum Unmut der Gäste, die sich bestens präparierte Pisten für den Ski urlaub wünschen. D ER ZUSTROM IN DIE BERGE wird gleichwohl immer größer. Erho lung Suchende belasten die fragile Bergwelt in den beliebten Zielen der Bayerischen Alpen, in Tirol und Südtirol. Party-Orte wie Ischgl, die nicht erst durch ihre Superspreader- Rolle in der Corona-Pandemie in die Kritik ge kommen sind, schaffen ein Freizeitangebot, das für die majestätische Landschaft nur noch eine Rolle als Kulisse vorsieht: schnell rein, viel Spaß haben, schnell wieder weg. Dabei schmilzt ein solches Geschäftsmodell mit den steigenden Temperaturen buchstäblich weg. Periphere Alpenregionen dagegen entvölkern sich, etwa die piemontesischen Berge im Südwesten, was zum Verlust uralter Kulturlandschaften, Lebens- und Wirtschaftsweisen führt.
Der in Ost-West-Richtung verlaufende Ge birgsbogen, dessen Auffaltung vor 135 Millio- nen Jahren begann, misst 1200 Kilometer in der Länge und zwischen 150 und 200 Kilometer in der Breite. Gut 80 Millionen Menschen leben und arbeiten in der Makroregion Alpen, wie die Europäische Union das Gebiet definiert hat. Vor allem Wasser aus dem regenreichen Gebirge erfüllt in den Anrainerstaaten eine essenzielle Funktion. Es versorgt Menschen in München, Zürich, Innsbruck, Wien, Ljubljana, Turin, Mai- land, Genf und Grenoble. Es nährt die Landwirt- schaft etwa in der im Sommer trockenfallenden Po-Ebene, und es hält Fabriken am Laufen. Das Wachstum, das das Gebirge an seinen Rän- dern ermöglichte, hat es zum am besten erschlos- senen Hochgebirge der Welt gemacht. Laut einer Erhebung der Alpenkonvention, dem supra nationalen Vertragswerk der acht Alpenstaaten, fließen jährlich 224 Millionen Tonnen Fracht über die Alpen, 70 Prozent per Lastwagen über die 15 großen Pässe, 30 Prozent auf der Schiene. Zum Ausmaß des Tourismus gibt es zwar keine offizielle Statistik, doch geht der Alpen- forscher Werner Bätzing, emeritierter Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlan- gen-Nürnberg, von etwas mehr als einer Million touristischer Betten in den acht Alpenstaaten aus. Die Branche verzeichne eine halbe Milliarde Übernachtungen sowie 60 Millionen Tagesbe- sucher pro Jahr. Auch wenn laut Bätzing nicht einmal ganze 20 Prozent der Arbeitskräfte im Tourismussektor der Alpen beschäftigt und etwa 80 Prozent der Betten in 300 größeren Orten konzentriert sind: Der Tourismus ist die prä- gende Kraft. Er kann Natur- und Kulturräume überformen und zerstören, etwa in Orten wie Ischgl, Sölden, Davos oder am Arlberg. Er kann aber auch Perspektiven schaffen, regionale Strukturen unterstützen und gleichzeitig den Natur- und Artenschutz stärken. Geht die Entwicklung so weiter, sieht Alpen- forscher Bätzing nur zwei Wege: Entweder wür- den die Kulturflächen mangels Perspektiven der lokalen Bevölkerung nicht mehr bewirtschaftet, was zu Verbuschung und Verwaldung führe. Oder sie würden intensiv genutzt, zersiedelt oder durch Freizeitparks zerstört. „Die traditi- onellen kleinräumigen Kulturlandschaften der Alpen verschwinden“, so seine Prognose. Sind die Alpen am Ende? Vielleicht noch nicht, aber wirksamen Schutz benötigen sie. Keine neuen Autobahnen, mehr Güter auf der
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