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Erziehung
4. 2022
››Für einen Workaholic- Hund ist es unfassbar mühsam, abzuschalten. Er braucht einen Menschen mit Geduld und Konsequenz‹‹
nicht nur heute und jetzt, sondern auch morgen, über- morgen, jeden Tag das zeigen, was ihre Gene hergeben. Schon wieder Stress für beide Seiten, schon wieder ein überforderter Hund und ein ebenso genervter Halter. Spätestens jetzt kommt ein weiteres Mantra ins Spiel: Eile mit Weile. Der Hund muss das lernen, was seine Berufskollegen längst können – er braucht Ent- schleunigung, Zeiten der totalen Entspannung. Er muss runterkommen vom ständigen Trieb, sich auszuarbeiten. Bei kleinen Hunden, die mit auf die Couch (oder sogar ins Bett) dürfen, klappt das meist noch ganz gut. Sie ku- scheln ohnehin gern, strecken auf dem Rücken liegend alle viere von sich und die Augen schließen sich von ganz alleine. Doch für einen Workaholic-Hund ist es unfassbar mühsam, abzuschalten. Er braucht Hilfe und einen Menschen mit Konsequenz und unendlicher Ge- duld. Schließlich kann man ihn nicht auf ein Signal hin tief ein- und wieder ausatmen lassen. Er wird sich bei Yoga-Figuren drauf konzentrieren, alles perfekt zu ma- chen – schon wieder am Ziel vorbei. Auch das eigentlich sinnvolle Deckentraining, das „Geh auf deinen Platz“ bringt bei einem hypererregbaren Hund nichts, weil er dort spannungsgeladen auf „Jetzt geht es weiter“ wartet. Wenn Arbeitstiere rumliegen, bleiben immer ein Auge und ein Ohr auf die Menschen und die Umgebung ge- richtet. Und sobald sich etwas tut, stehen sie wieder auf der Matte, oft sogar nachts. Das raubt nicht nur Zwei- beinern den Schlaf, sondern ist auch kontraproduktiv für das seelische Wohlbefinden der Hunde. Mindestens ein Drittel ihrer Zeit sollte der eigenen Wellness dienen. Was aber, wenn ein Hund das nicht (mehr) kann oder will? Dann muss er zum Runterkommen angeleitet werden. Dafür brauchen Sie einen Raum der Stille, ohne optische und akustische Ablenkung. Dort legen Mensch und Hund sich auf den Boden oder eine Matte. Wer will, kann die Übung auch auf der Couch absolvieren. Schlie- ßen Sie die Augen und streichen Sie mit einer Hand über das Hundefell, ohne Unterbrechung, bis Sie spüren, wie der Hund ganz allmählich ruhiger atmet, seine Mus- kulatur entspannt, der Kopf sich senkt. Wer will, kann leise vor sich hin summen, in hoher Stimmlage, als ob man ein Baby in den Schlaf singen würde. Auch ein „Ommm“ kann dienlich sein, wenn es Sie ruhiger wer- den lässt. Entspannung ist genau wie Anspannung an- steckend. Nicht ungeduldig werden – es kann dauern, bis das Bedürfnis, sich komplett fallen zu lassen, den Hund übermannt und die permanente Konzentration auf einen äußeren Reiz besiegt. Mindestens zehn Minu-
ten lassen Sie ihn schlafen, bevor Sie Ihre Hand vom Fell nehmen und leise aufstehen. Ein paar Tage führen Sie diese Prozedur noch durch, bis die tägliche Entschleuni- gungseinheit ein Ritual ist, auf das der Hund genauso wartet wie auf seine Fitness-Stunden. Erst dann führen Sie – immer noch mit der Hand beim Hund – das Signal- wort fürs Runterkommen ein. Das kann Ihr „Ommmm“ sein, ein stimmhaftes Gähnen, ein paar leise sanfte Wor- te, die noch nicht in seinem Erziehungs-Repertoire sind. Auf dieses Signal hin, so das Ziel der Ruhe-Übungen, soll der Hund runterkommen, sich hinlegen, wohlig seufzen und in einen Trancezustand verfallen, bevor er einschläft. Das Wellness-Signal muss für Dienstschluss stehen, für Feierabend und Ende des selbst auferlegten Leistungsdrucks. Die Muskeln sollen erschlaffen, alle Glieder entspannt und der Körper schwer werden. Die Stresshormone Cortisol und Adrenalin sinken, Puls und Herzschlag verlangsamen sich, das Gehirn geht in den Ruhemodus über. Je stärker er täglich gefordert wird, desto dringender braucht ein Hund seine Auszeiten. Das Ergebnis ist ein aufmerksamer, arbeitsbereiter Gefährte, der körperlich topfit, geistig gut ausgelastet ist und die entspannten Momente sucht und genießt. Das zeigt sich erst allmählich, dann aber auf Dauer und mit einer starken Nebenwirkung: Ein tiefenentspannter Hund ist ansteckend, seine Ruhe geht auch auf uns über. Da ist es wieder, das harmonische Miteinander von Mensch und Hund, das sich beide Seiten wünschen.
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