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Politische Dimension der Internationalen Jugendarbeit
keit kann sich im Laufe des Austauschs verfestigen oder der Konstruktionscha- rakter von sozialer Zugehörigkeit kann dekonstruiert werden. Die Internationale Jugendarbeit bietet aber auf jeden Fall die Chance, sich reflexiv mit der jeweiligen Staats- oder Nationalkonstruktion ausei- nanderzusetzen. In diesem Zusammenhang steht drittens das Konzept der „reflexiven Internatio- nalität“. Reflexive Internationalität wird hier als Perspektive verstanden, die sich aus der Verschränkung der Diskurse der Internationalen Jugendarbeit einerseits und dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs um Interkulturelle Pädagogik / Mi- grationspädagogik andererseits ergibt. Das Internationale bietet dabei einen Bil- dungs-, Lern- und Freizeitraum, der eine differenzierende Thematisierung von Staaten, Kulturen, Lebensweisen, Werten und Normen ermöglicht, aber die Rich- tung und die Tiefe der Thematisierung nicht normativ vorgibt. Die Kategorie des ‚Nationalen‘ der beteiligten Gruppen wird in der Bildungspraxis nicht mehr als die relevante Kategorie gefasst, der sich andere Differenzlinien unterordnen. Viel- mehr werden alle Aktivitäten und das spezifische Sprechen, Denken und Han- deln der Personen aus unterschiedlichen nationalen Kontexten für die beteiligten Jugendlichen zum Anlass, die Bedeutung – oder auch Nicht-Bedeutung – unter- schiedlicher Differenzlinien in den Blick zu nehmen. Es bedarf von Seiten der Tea- menden einer sensiblen Haltung, wann und in welcher Weise die Kategorie ‚Na- tion‘ bzw. ‚Staat‘ als relevant thematisiert wird und wann sie lediglich dazu dient,
vermeintliche Grenzen zu markieren, stereotypisierende Zuschreibungen zu reproduzieren und Prozesse des „Other ing“ fortzuführen oder einzuleiten. Diese Lesart des Umgangs mit tatsächlichen oder konstruierten Differenzen in der In- ternationalen Jugendarbeit orientiert sich im Begriff der reflexiven Internationalität auch am Konzept der diversitätsorientier- ten Bildungsarbeit (vgl. Leiprecht 2011), verweist aber zugleich strukturell und or- ganisatorisch darauf, dass die Eigenstän- digkeit des Feldes Internationale Jugend- arbeit erhalten bleibt und nicht entgrenzt wird. Die Kategorien ‚Nation‘, ‚Staat‘ oder ‚Gesellschaft‘ bleiben situativ und kon- textabhängig relevante Kategorien im Rahmen der politischen Dimension, die als Hintergrundfolie in der Internationa- len Jugendarbeit mitschwingt. Sowohl in der face-to-face-Begegnung als auch in der medial-virtuellen Kommunikation können mit einem solchen Konzept ste- reotype Konstruktionen hinsichtlich Na- tionalität, Staatlichkeit und Kulturalität thematisiert und eine sensibilisierende Auseinandersetzung über die Relevanz unterschiedlicher Differenzlinien eröffnet werden. Viertens spielen politische Themen in der Internationalen Jugendarbeit inso- fern eine Rolle, als Auslandsmobilität im Bildungskontext bzw. Grenzüberschrei- tung dazu führen kann, über die Gestal- tung des Politischen im eigenen Land, im Partnerland sowie europa- oder weltweit nachzudenken und vermeintlich sicher geglaubte Tatsachen, Machtverhältnisse und Routinen der eigenen Perspektive im Ländervergleich kritisch zu hinterfragen.
sozioökonomischer, und sprachlicher Machtungleichgewichte oft verborgen, ist aber in der Grundanlage konstitutiv und nicht hintergehbar. politischer Auch die Aufforderung zur Partizipation bzw. der partizipativen Gestaltung der Reise und des Austauschs ist von zentra- ler Bedeutung und ist anschlussfähig an die fachliche Diskussion in der deutschen Jugendarbeitsforschung, wie sie z. B. von Benedikt Sturzenhecker und Albert Scherr (2013) als subjektorientierte Jugendar- beit und Demokratiebildung immer wie- der angemahnt wird. Eine verpflichtende Partizipation ergibt sich auch aus dem eu- ropäischen Diskurs über youth work, wie er insbesondere im europäischen Netz- werk der Partnerschaft zwischen Europa- rat und der EU in Jugendfragen geführt wird (EU / CoE-Youth-Partnership). Internationale Jugendarbeit bezieht sich zweitens auf die Auseinandersetzung mit dem Konstrukt einer „kollektiven Identität“ bzw. der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Staatsbürger(inne)n (bzw. Jugendlichen, die in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben), die das jewei- lige Land im Austausch „vertreten“. Die- se Zugehörigkeit der Einzelnen zu einem Staat ist ein wichtiger Ausgangspunkt der internationalen Jugendarbeit. Die indivi- duelle Bedeutung staatlicher Zugehörig-
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