04-2016 D

Der lange WEG zum TRAUMBERUF Meine beste tschadische Freundin ist noch keine dreissig Jahre alt, hat aber sehr jung geheiratet und jetzt bereits acht Kinder. Nur einen Tag nach der Ge- burt ihres jüngsten Kindes ging sie zu meinem grossen Erstaunen in die Stadt, um dort eine Prüfung fürs Abitur abzulegen! Obwohl ich nun schon fast zehn Jahre im Tschad lebe, bin ich immer wieder Auch die Schweiz ist in mancherlei Hinsicht ein erstaunliches Land: Wo sonst würde man tatsächlich zusätzliche Ferienwochen ablehnen? Abstimmungen über persönliche Privilegien werden nur angenommen, wenn das Wohl der Arbeitgeber und der ganzen Nation dadurch nicht zu stark beeinträchtigt werden. Sogar der Mutterschaftsurlaub wurde lange Zeit bekämpft und erst später als in vielen anderen europäischen Ländern angenommen. Von dieser Einstellung wurde ich geprägt – ich habe gelernt, an das Wohlergehen meiner Umgebung und meines Arbeitgebers genauso zu denken wie an mein eige- nes. Jeder „schlägt sich so durch“ Hier im Tschad begünstigen die Gesetze hingegen fast immer den Angestell- ten, der zahlreiche Rechte geniesst. Die Kehrseite der Medaille: Nur sehr weni- ge Personen werden regulär mit einem Vertrag angestellt und profitieren von diesen Vorteilen. Jeder „schlägt sich so durch“, während er auf eine Festanstel- lung wartet. Ohne Festanstellung gibt es aber weder eine Unfall- noch eine Krankenversicherung und auch keine Altersvorsorge. Traumberuf: Beamtin beim Staat Der Traum fast jeder Person imTschad ist eine Anstellung als Beamtin oder Be- amter beim Staat – denn dann kann man nicht mehr entlassen werden! Aber um das zu erreichen, ist das Abitur ein„Muss“. Dieses Diplom öffnet die Türe zu einem Studium, und sobald man dieses erfolgreich abgeschlossen hat, kann man sich auf die sehr lange Liste der Personen einschreiben lassen, die beim Staat angestellt werden möchten. Die Wartezeit kann variieren, aber es han- delt sich in jedem Fall um Jahre. So verfolgt also meine Freundin ihr Ziel, den Studienabschluss, mit einer be- merkenswerten Hartnäckigkeit. Sie hofft, dass die nächsten Geburten in die Ferienzeit fallen werden. Und wer weiss, vielleicht wird sie, wenn sie eines Tages angestellt ist, in den Genuss des wohlverdienten Mutterschaftsurlaubs kommen!? überrascht über die Unterschiede zur Schweiz. Nicht nur das eigeneWohl im Fokus

Patricia MOSER, Mitarbeiterin im ProRADJA‘, Tschad

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