IHK-Magazin Ausgabe 04/2023

TIPPS

INTERVIEW MIT AHK-CHEF „Die Türkei profitiert vom Trend zum Nearshoring“

AUSLANDS- GESCHÄFT

Trotz Erdbeben und Inflation ist das Stimmungsbild bei deutschen Unternehmen in der Türkei eher positiv. Dr. Thilo Pahl, Chef der AHK Türkei, über Potenziale am Bosporus.

Pahl: Ja, durchaus. Trotz der schwie- rigen Rahmenbe- dingungen ist die türkische Wirt- schaft erstaun- lich robust. 2022 wuchs sie um 5,6 Prozent. Die

liche Potenzial der Türkei als hoch ein. Die Infrastruktur ist vielfach ausgezeichnet, die Industriebasis breit. Es gibt viele logistische Optio- nen für den Handel mit Europa, die Produktion ist immer noch vergleichs- weise günstig, und die Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften ist gut. Aus diesen Gründen investieren auch immer mehr deutsche Unternehmen in der Türkei. 2022 lagen die Direktinvesti- tionen bei knapp 700 Mil- lionen US-Dollar. Das ist der zweithöchste Wert in den vergangenen 13 Jahren. Die Türkei profitiert vom Trend zum Nearshoring. Das trifft jedoch überwiegend auf die Unternehmen zu, die den tür- kischen Markt bereits kennen. Investitionen von deutschen Unternehmen, die bisher nicht in der Türkei engagiert waren, sind wesentlich seltener. Ein großes wirtschaftliches Potenzial liegt im Bereich der erneuerbaren Energien und des grünen Wasserstoffs. Die natürlichen Bedingungen für Wind- und Solarenergie sind in der Türkei hervorragend. Welche Weichen müssen jetzt gestellt werden? Pahl: In unseren Umfra- gen nennen 75 Prozent der deutschen Unternehmen den Wechselkurs als größten Risikofaktor für ihre geschäft- lichen Entwicklungen, 60 Pro- zent die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Wie schätzen Sie die Situation in der Türkei nach den Erdbe- ben vom Februar 2023 ein? Thilo Pahl: Diese verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien haben mehr als 55.000 Menschen das Leben gekostet – eine unfassbare menschliche Tragödie. Die Kosten für den Wiederaufbau werden für die Türkei auf rund 100 Milliar- den US-Dollar geschätzt. Das entspricht elf Prozent des türkischen Bruttoinlandspro- dukts. Die Türkei wird für eine längere Zeit auf weitere Unter- stützung aus dem Ausland angewiesen sein. Welche Rolle spielt dabei die Inflation? Pahl: Die Erdbeben haben die Türkei in einer fragilen wirt- schaftlichen Gesamtsituation getroffen – geprägt von hoher Inflation und einer starken Ab- wertung der türkischen Lira. Im Oktober 2022 lag die Inflation bei 86 Prozent, der höchste Stand seit 24 Jahren. Aktuell sind es im April 2023 immer noch 44 Prozent. Gegenüber dem US-Dollar hat die Türki- sche Lira im Jahr 2022 rund 30 Prozent an Wert verloren. Dadurch werden Importe teurer, insbesondere von Energie. Die schwache Währung und die ge- stiegenen Energiepreise treiben das Leistungsbilanzdefizit der Türkei in die Höhe, im vergan- genen Jahr betrug es 49 Mil- liarden US-Dollar. Gibt es auch positive Nachrich- ten zur wirtschaftlichen Lage?

Exporte stiegen auf ein Allzeithoch von 254 Milliarden US-Dol- lar. Davon profitieren auch deutsche Unternehmen. Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Türkei erreichte 2022 einen neuen Rekord von 45 Milliarden US-Dollar. Diese positiven Wachstums- und Export- zahlen schlagen sich auch im Stimmungsbild der deutschen Unternehmen zur Geschäfts- lage in der Türkei nieder. In unserer aktuellen Umfra- ge aus dem Frühjahr 2023 bezeichnen 69 Prozent der Unternehmen ihre Geschäfts- lage als gut, nur 31 Prozent als schlecht. Deutlich pessi- mistischer zeigten sich die Unternehmen jedoch mit Blick auf die weitere Geschäftsent- wicklung. Hier wirkten sich Unsicherheiten bezüglich des wirtschaftspolitischen Kurses nach den Parlaments- und Prä- sidentschaftswahlen im Mai in der Türkei aus. Wie sind die Aussichten, wo liegen die größten Potenziale für deutsche Unternehmen? Pahl: Mittel- bis langfris- tig schätzen die deutschen Unternehmen das wirtschaft-

Dr. Thilo Pahl ist Geschäftsführen- des Vorstandsmit- glied der Auslands - handelskammer (AHK) Türkei und Delegierter der deutschen Wirt- schaft in der Türkei.

21,6 MILLIARDEN US-DOLLAR Warenwert der Importe aus Deutschland in die Türkei Januar bis November 2022 QUELLE: TÜRKISCHES STA- TISKAMT TÜRK İSTATISTIK KURUMU (TÜİK) 2023

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IHK Magazin Rhein-Neckar 04 | 2023

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