Ein Reichsbahner berichtet Fahrten nach Stettin
Nach Abschluss meiner Ausbildung auf der Baureihe 118 bekam ich 1984 den Auftrag, die Streckenkenntnis nach Szczecin zu erwerben. Nach dem Dampflokabschied am 30. September 1979 hatten die Loks der Baureihe 118 die Leistungen nach Stettin von der Baureihe 01 übernommen. Am 4. Juli 1984 fuhr ich mit dem abendlichen D 312 „Gedania“ von Berlin-Lich- tenberg nach Szczecin mit. Lokführer war mein ehemaliger Lehrlokführer Manfred Zosel, „Manne“ genannt, der mir die Führung des Zuges überließ. Zuvor hatte ich eine Berechti- gungskarte zum Befahren der Strecken der PKP erhalten. Außerdem gab es einige Hinweise zum Verhalten bei Problemen in Polen. Da wir die polnische Sprache nicht beherrschten, sollten wir ggf. telefonisch einen Dolmetscher des Reichsbahnamtes Pasewalk anfordern. Meine Fahrt mit dem D 312 verlief jedoch ohne Zwischenfälle. Bis nach Tantow ging es recht zügig. Direkt hinter der Grenze lag der Oberbau jedoch schlecht, was uns zur Reduzie- rung der Geschwindigkeit zwang. In Gumience gab es noch einen Aufenthalt zur Grenzkon- de bekamen wir von einer Frau die Schlüssel für die Zimmer. Manne gab ihr ein Marmela- dengläschen mit Kaffeepulver und bat sie, uns am Morgen einen Kaffee zu machen und uns zu wecken. Übernachtung in Stettin Morgens standen auch zwei Tassen für uns bereit. Manne bat die Frau, auch für sich einen Kaffee zu machen. Sie nahm aber ein Stück Papier und wollte das Löffelchen Kaffee einwickeln. Manne gab ihr darauf hin das ganze Glas. Die Frau war nun total aus dem Häuschen und überschüttete uns dafür mit den Wünschen aller Heiligen, die sie kannte. Ich war erstaunt darüber, dass ein bisschen Kaffee hier so einen großen Wert hatte. Nachdem wir unsere Lok vorbereitet hatten, fuhren wir in Richtung Drehscheibe. Nun musste ich an die Erzählung eines Dampflokführers in Lichtenberg am runden Tisch in der Kantine denken. Er hatte berichtet, dass er am Morgen nicht aus dem Bw gekommen sei, weil der Drehscheibenwärter gestreikt habe. Neben Danzig war auch Stettin zur Keimzelle der Gewerkschaftsbewegung Solidarność geworden. Die Lok steckte nun bis zur Klärung des trolle, dann fuhren wir vorsichtig zum Hauptbahnhof. Manne erklärte, dass in diesem Abschnitt manchmal Gegenstände auf die Gleise geworfen wurden. Wir erreichten aber ohne Probleme Szczecin Główny. Im Hauptbahnhof spannten wir ab und fuhren unse- re Lok ins Bw in den Lokschuppen. Nun war eine fünfstündige Pause vorgesehen. Im Übernachtungsgebäu- ä um ss
Der Schnellzug „Gedania“ von Berlin-Lichtenberg nach Gdynia/Gdingen war bis 1979 zwischen Berlin und Szczecin/Stettin eine Leistung für 01.5 der DR. Gern hielten Eisenbahner und Eisenbahn- freunde den fotogenen Zug im Bild fest; hier eine Aufnahme aus Eberswalde Wolfgang Dath
Problems stundenlang fest und das Lokperso- nal kam nicht nach Hause. Erst mit einer erheblichen Verspätung erreichte die Lok wie- der das heimatliche Streckennetz. Unsere Rückfahrt mit dem D 313 verlief am 5. Juli 1983 aber ohne Probleme. Beim Aufenthalt in Gumience erstaunte mich noch ein Mann, der Brennnesseln sammelte. Wollte der Mann sich naturnah ernähren oder war die Versorgungslage in Polen so schlecht, dass er auf solche Nahrungsmittel zurückgreifen musste? Wolfgang Dath mi sa Pro na 5
Das Zuglaufschild des D 312, den ich ab 1984 auch fahren durfte – nun aber mit einer DR-Diesellok der Baureihe 118 Wolfgang Dath
Im Sommer 1983 war ich mit der 118 137 zu Ausbildungsfahrten im PKP-Netz zu Gast. In Zbaszynek entstand dieses Foto mit meinem Ausbilder (r.) und mir. Rund ein Jahr später, am 4. Juli 1984, fuhr ich mit der 118 137 auch den D 312 von Berlin nach Szczecin Slg. Wolfgang Dath
67
BAHN EXTRA 5/2025
Made with FlippingBook flipbook maker