Website_SAM focus 3_21

ZWISCHEN SCHWEIZER PRÄZISION UND GUINEISCHER FUNKTIONALITÄT

verwunderlich, wenn man beim Au- tofahren die Hupe mehr braucht als den Blinker, Reis nicht nur zum Zmit- tag, sondern auch zum Frühstück ver- schlingt undMilitärkontrollposten nur mit der richtigen Dosierung von Ge- plauder und Humor überwunden wer- den. Diese Dinge waren es auch, die die Grenzen meines Vorstellungsvermögens leicht verschoben haben. Gerade dann, wenn du dich über ein Auto mit einer Ziege auf dem Dach verwunderst, hat das nächste Fahrzeug garantiert eine Kuh geladen. Und eine Ziege. Nichts ist unmöglich Mit der Zeit wurden all diese Eindrü- cke, die meinen Schweizer Verstand an seine Grenzen brachten, normal. Erst als ich zu begreifen begann, dass ich be- züglich Autos beladen, Sauberkeit und vielen weiteren Dingen wohl der einzi- ge im Land bin, bei dem Grenzen über- haupt existieren, gelang es mir, mich da- rauf einzulassen. Nun scheint es so, als ob ich alle Gren- zen hinter mir gelassen und freie Fahrt habe, um die Welt zu retten. Das schei-

tert aktuell noch an zwei Punkten: Ei- nerseits sind für eine freie Fahrt die Strassen viel zu schlecht. Andererseits kommt spätestens nach einigen Kilome- tern die nächste Grenze, die es zu über- winden gilt. Gerade Kanten Und so erlebe ich es auch ganz per- sönlich. Die grosse, gleichzeitig für je- dermann verständliche, offensichtliche Grenze der ungewohnten Kultur ist ak- tuell nicht mehr meine grösste Heraus- forderung. Vielmehr merke ich, wie ich durch meine tägliche Arbeit immer wie- der vor Grenzen stehe. Mich fordert es sehr heraus, eine gesunde Mischung zwischen Schweizer Präzision und gui- neischer Funktionalität zu finden. Die zu Beginn beschriebenen Eindrücke ste- hen stellvertretend für so viele Situatio- nen in meinem Alltag, wo ich an Gren- zen stosse. Es kann eine gute Idee sein, bei der ich genau wüsste, wie ich sie umsetzten würde. Doch die Schrau- ben dazu fehlen oder sind bereits wie- der kaputt. Es fehlt so wenig. Nur eine Schraube. Aber eben, sie fehlt. Womöglich brauchte es diese anfäng- lichen Frustrationen über den manch- mal so beschwerlichen Weg zum Ziel. Doch in Guinea gibt es für alles Lösun- gen. Und diese gemeinsam mit moti- vierten, jungen Guineern zu finden, be- deutet mir mehr als jede gerade Kante.

Wenn man nachts von Qualitäts- schrauben zu träumen beginnt, ar- beitet man möglicherweise in einer guineischen Werkstatt. Lasst mich von Grenzen erzählen, die ich mit einem Hammer überwunden habe und wie mir eine Ziege dabei ge- holfen hat. Spätestens als ich das «Schraubenla- ger» an meinem neuen Arbeitsort in Guinea gesehen habe, wusste ich: Da kommt etwas auf mich zu. Vorsichtig ausgedrückt ist das Sortiment «über- schaubar». Mit dem habe ich gerech- net. Doch ich hätte es tatsächlich nicht für möglich gehalten, dass solch miese Qualität tatsächlich existiert – wirklich nicht. Manche hier erhältliche Schrau- ben sehen in ihrem Leben genau zwei Mal ein Werkzeug: das erste Mal beim einmaligen Anziehen und das zweite Mal beim Lösen der vermurksten Mut- ter vom abgetragenen Gewinde. Mit dem Hammer. Und roher Gewalt.

Mein neues Zuhause Für einige Monate war Guinea mein neues Zuhause: Mein Leben ist äusser- lich ein ganz anderes geworden. Nicht

Sämi W. Ehemaliger Kurzzeiter ProTIM 2-2-2 Kissidougou, Guinea

08

Guineisch beladen kennt keine Grenzen

Made with FlippingBook - professional solution for displaying marketing and sales documents online