Ehrenamt und Herzenssache: Türkei und Deutschland

Hans Steimle: Die Planung für das Fachprogramm begann schon im Dezember 2019. Ursprünglich soll - te es im Frühjahr 2020 stattfinden, aber die Corona- Pandemie hat das unmöglich gemacht. Wir haben es dann auf den Herbst 2020 verschoben und waren sehr traurig, dass wir auch diesen Termin absagen mussten. Umso glücklicher sind wir jetzt, dass das Fachprogramm stattfinden konnte. Im Nachhinein hat sich gezeigt, dass die lange Planungsphase viel zum Gelingen beigetragen hat. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Gaziantep nah an der syrischen Grenze liegt. Ich nehme an, die Themen Flucht und Migration haben bei eurem Fachpro­ gramm eine große Rolle gespielt. Şükran Yalçın: Ja, genau deswegen haben wir die Stadt ausgesucht. Die Geflüchteten sind tatsächlich sehr präsent. Auf der Straße hört man überall Ara - bisch. In der Liste der türkischen Städte, in denen sich Geflüchtete niedergelassen haben, steht Gaziantep auf Platz 2, direkt hinter Istanbul. Wir wollten Projekte besuchen, die sich mit der Situation von Geflüchteten beschäftigen und mit den Menschen vor Ort ins Ge - spräch kommen.

Hans Steimle: Die Zahl, die ich vom BAMF bekom - men habe, sagt 459.000. Das ist für eine Stadt von ur - sprünglich 2 Millionen eine ganze Menge. In Istanbul sind es 533.000. Ich habe bei dieser Reise gelernt, dass Gaziantep Teil eines gemeinsamen Kulturraums mit Syrien ist, das macht es für Geflüchtete einfacher, sich dort niederzulassen. Es sind etwa 50 Kilometer bis zur Grenze und auf der anderen Seite sind es nochmal 50 Kilometer bis Aleppo. Das ist ungefähr die Entfernung zwischen Stuttgart und Ulm. Ich lebe auf halbem Weg zwischen beiden Städten, würde also gewissermaßen auf der Grenze wohnen. Wie gehen die Menschen in Gaziantep mit der großen Zahl von Geflüchteten um? In Deutschland haben wir ja 2015 und 2016 viel Hilfsbereitschaft erlebt, aber auch rassistische Übergriffe. Hans Steimle: Ich habe die Stadt als sehr offen und vielfältig erlebt. Aber man hat uns natürlich auch von den Schwierigkeiten berichtet. Das betrifft zum Beispiel Wohnraum für alle, Schule, Ausbildung und Arbeit. Und natürlich taucht dann auch die Frage auf, „schaffen wir das?“ In der Türkei besteht die Si - tuation mit den syrischen Geflüchteten ja schon seit 2011, lange bevor das in Deutschland zum Thema wurde. Zunächst hat man das als humanitären Not - fall betrachtet, hat die Menschen in Zeltstädten un -

Wie viele syrische Geflüchtete leben denn in Gaziantep?

tergebracht und mit dem Nötigsten versorgt. Jetzt ist oft von Integration die Rede – man geht also of - fenbar davon aus, dass viele bleiben werden. Şükran Yalçın: Ja, aller - dings benutzen wir den Begriff Integration nicht gerne, denn wir verbinden damit Assimilation. Wir wollen aber niemand as- similieren. Wir benutzen stattdessen den Begriff „soziale Anpassung“.

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