INTERVIEW
„Die Deutschen wurden unterschätzt“ Der australische Historiker Scott Revell über Fehlkalkulationen vor Arnheim und die strategischen Folgen der alliierten Niederlage. Das Gespräch führte Alain Felkel
Herr Revell, was waren die Gründe für die Niederlage der Alliierten in der Schlacht von Arnheim? Über diese Frage diskutieren Historiker und Militärangehörige schon seit vielen Jahren. Häufig werden die weit entfernten Landezonen, die unzureichende Kommu- nikation, die mangelnden Transporte am ersten Tag, die unerwartete Anwesenheit von zwei SS-Panzer-Divisionen, die unge- nügende Zuteilung von Segelflugzeugen für die gesamte Operation und das Ver- säumnis, die Brücke von Nimwegen zu Beginn der Schlacht einzunehmen, als Gründe genannt. Ein Faktor, der in vielen Darstellungen übersehen wird, ist jedoch die Unter- schätzung der Reaktionsfähigkeit der deutschenWehrmachtdurchdieAlliierten. Während die Beteiligung der 9. SS-Panzer- Division „Hohenstaufen“ und der 10. SS- Panzer-Division „Frundsberg“ gut doku- mentiert ist, waren dies bei Weitem nicht die einzigen Kräfte, denen die Alliierten gegenüberstanden. Meine Nachforschungen ergaben, dass mindestens 30 deutsche Infanteriebatail- lone in der Größe verschiedener Truppen- gattungen, unterstützt von Artillerie- und Panzereinheiten, gegen die neun Bataillo- ne und Unterstützungseinheiten der bri- tischen 1st Airborne Division vorgingen. Die deutsche Verstärkung kam aus den besetzten Niederlanden, aus Deutschland und sogar von einer Einheit aus Dänemark. Meines Erachtens hatten die Planer der Operation „Market Garden“ nicht mit einer so umfangreichen und schnellen deut- schen Reaktion gerechnet – vor allem nicht in dieser späten Phase des Krieges. Diese Unterschätzung spielte eine entscheiden- de Rolle bei der Niederlage der Alliierten in Arnheim. Welches einzelne Gefecht hat in Ihren Augen tatsächlich die gesamte Schlacht entschieden? Meiner Meinung nach waren die Kämpfe in Arnheim am 19. September 1944 der entscheidende Moment, der den Ausgang der Schlacht bestimmt hat. Einerseits startete die britische 4. Fallschirmjäger- brigade einen erfolglosen Angriff auf die
schreiben, sondern allen deutschen Ar- meen, die an der Schlacht beteiligt waren, darunter auch das Heer und die Kriegs- marine. Was waren die strategischen Folgen der Niederlage auf beiden Seiten? Für die Alliierten war das Scheitern der Rheinüberquerung im September 1944 ein entscheidender Wendepunkt. Die Nieder- lage bei Arnheim bedeutete, dass der Weg zum Sieg über das „Dritte Reich“ länger und beschwerlicher werden würde und sich der Krieg letztlich um weitere acht Monate verlängerte. Diese Verzögerung war mit einem ho- hen Preis verbunden – Tausende weitere alliierte Soldaten wurden getötet oder
stark befestigten deutschen Stellungen entlang des Dreijensewegs in Oosterbeek. Die Briten erlitten verheerende Verluste und waren schließlich gezwungen, sich auf ihre Ausgangspositionen zurückzu- ziehen. Die Situation verschlimmerte sich, alsdiedeutschenTruppendieGelegenheit zum Gegenangriff nutzten und die Briten zu einem ungeordneten Rückzug zwangen. Andererseits versuchten drei bis vier britische Bataillone, die deutschen Linien im Westen Arnheims zu durchbrechen und ihre an der Brücke kämpfenden Ka- meraden zu entlasten. Diese Einheiten stießen auf heftigen Widerstand aus gut verteidigten Gebäuden, unterstützt von deutschen Sturmgeschützen und Mörsern. Als die britischen Bataillone versuchten vorzurücken, gerieten sie unter heftiges
„Es war nicht nur ein Triumph für die Waffen-SS, sondern für die gesamte deutsche Wehrmacht.“
verwundet –, aber es war ein Preis, der im Streben nach einer bedingungslosen deutschen Kapitulation gezahlt werden musste. Eine weitere, oft übersehene, strategi- sche Folge der Schlacht waren ihre verhee- renden Auswirkungen auf die niederlän- dische Bevölkerung. Als Vergeltung für die niederländische Unterstützung der Operation „Market Garden“ setzten die deutschen Streitkräfte harte Repressalien ein. Dazu gehörten die Beschlagnahmung von Lebensmitteln, die Zerstörung wichti- ger Infrastrukturen und sogar das Entfer- nen von Haustüren, um sie als Deckungs- schutz für die deutschen Schützengräben zu nutzen. Diese Maßnahmen trugen unmittelbar zum berüchtigten „Hungerwinter“ bei, in dem Tausende von niederländischen Zivi- listen der Kälte ausgesetzt waren oder gar verhungerten.
Flankenfeuer von Maschinengewehren und Flugabwehrkanonen, das einen töd- lichen Engpass bildete und ihren Vor- marsch effektiv behinderte. Erneut erlitten die Briten schwere Verluste und waren zum Rückzug gezwungen. Diese beiden fehlgeschlagenen Angrif- fe am 19. September 1944 legten die Offensivkräfte der britischen 1. Luftlande- division nachhaltig lahm und zwangen sie für den Rest der Schlacht in eine de- fensive Haltung. Kann man den deutschen Sieg als einen Triumph der Waffen-SS bezeichnen? Ich würde sagen, es war nicht nur ein Triumph für die Waffen-SS, sondern für die deutsche Wehrmacht als Ganzes. SS- Obersturmbannführer Walter Harzer, der zeitweilige Kommandeur der 9. SS-Panzer- Division „Hohenstaufen“ während der Schlacht von Arnheim, sagte später: „Wo- rauf ich stolz bin, ist, dass dieser Sieg nicht von regulären Einheiten errungen wurde, sondern auch von Eisenbahnern, Arbeits- dienst und Luftwaffenangehörigen. Das sind Leute, die nie für die Infanterie aus- gebildet wurden und eigentlich für den Häuserkampf ungeeignet waren.“ Der Erfolg ist nicht nur der Waffen-SS zuzu-
Scott Revell ist Oberst- leutnant der australischen Armee, Historiker und Autor zahlreicher Bücher sowie Veröffentlichungen über die deutsche Beteiligung an der Schlacht von Arnheim, die seit 30 Jahren sein For- schungsgegenstand ist.
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Militär & Geschichte
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